Vampyrus
ihren Vater geweckt haben. Plötzlich ging die Tür auf und ihr Vater stand im Türrahmen. Mit äußerster Anstrengung brachte Emilia ein verständliches „Papa, lass mich rein“, zustande.
Ihr Vater starrte sie mit geweiteten Augen an, er blinzelte und sagte zitternd: „Oh Kind, wir dachten … komm rein“, und machte ihr Platz. Sie fiel über ihn her, wie der Wolf über ein Geißlein, sah seinen entsetzten Blick, aber es war ihr egal. Blut! Aber es schmeckte nicht gut, so schal, so bitter. Bei ihrer Mutter war es das Gleiche. Robert, der ältere ihrer Brüder versuchte sie mit einem Küchenmesser abzuwehren, aber er hatte keine Chance. Sein Blut spritzte über den Küchenboden.
Adrian, nur zwei Jahre älter als sie, sprang durch das Fenster und versuchte vor ihr davon zu rennen. Sie war natürlich schneller und endlich fühlte sie sich wirklich gesättigt. Sein Blut war so süß, so delikat. Jungfrauenblut. Sie saß auf dem Hof bei der Scheune und trank und trank. Dann kam das Grauen. Sie hatte es wieder getan. Sie starrte auf ihren toten Bruder, er hatte doch immer so angegeben. Angeblich hätte er es mit Geitners Marie oben im Heuschober getrieben. Jetzt würde er es nie mehr erfahren, wie es ist mit einem Mädchen. Sie wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Abscheu vor sich selbst schüttelte sie. „Ich will das nicht, oh bitte, mach, dass es nicht wahr ist“, betete sie zu einem Gott, der für sie sicher nicht mehr zuständig war.
Marcel legte Emilia feixend auf ihr Bett. Das hatte sie nun von ihrem blöden Gezicke unbedingt zum Vampir gemacht werden zu wollen. Die dumme Gans hatte ihn auch noch ins Haus gebeten, sodass sein Plan nahezu perfekt aufgehen würde. Er lachte leise und schlich sich aus dem Haus.
Das Schrillen des Weckers brachte Emilia ins Dasein zurück. Ohne darüber nachzudenken, drückte sie auf die Schlummertaste. Dann stürzten die Erinnerungen auf sie ein und rissen sie förmlich aus den Kissen. Erschrocken starrte sie auf die nicht ganz geschlossenen Vorhänge. Ein Lichtstrahl tanzte herein, ließ das Kiefernholz am Fußende ihres Bettes erstrahlen. Wimmernd krabbelte sie bis an die Rückwand und zog die Bettdecke mit sich. Was sollte sie jetzt tun? Würde sie das Licht im Raum umbringen, oder nur, wenn sie direkt ins Sonnenlicht ging? Bis jetzt ging es ihr noch gut. Ihr Herz klopfte wie wild. Darf es das, so wild klopfen, hatte es denn gestern Nacht nicht aufgehört zu schlagen?
Plötzlich hörte sie ihre Mutter von unten rufen. „Emilia, wo bleibst du, das Frühstück ist schon fertig.“ Ohne noch über das Sonnenlicht nachzudenken, sprang Emilia aus dem Bett und rannte, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, hinunter in die Küche. Da stand ihre Mutter am Herd, Robert saß am Tisch und las die Zeitung und Adrian, ihr Herz machte einen Hüpfer, Adrian war ebenfalls da und schaufelte Rührei in sich hinein, wie immer. Sie umarmte ihre Brüder, die sie ansahen, als wäre sie krank und dachte „O Gott, ich danke dir, oh ich danke dir.“
Marcel lief lachend zurück in die Stadt. Er freute sich schon darauf, die ganze Geschichte Sira zu erzählen. Vielleicht würde sie ihn schelten, weil er Emilia eine echt fiese Geschichte suggeriert hatte. Aber was soll’s, dieses Gothicgirlie hatte er vom Glitzervampirwahn geheilt.
Gabriele Stegmeier
Der Gerberlehrling
A ls der Meister ihn rief, hatte Hans sofort ein komisches Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Er nahm die Holzstange, mit der er gerade in der gärenden Kleiebeize rührte, aus dem Fass und ging zu dem kleinen Raum vor der Werkstatt, in dem der Meister Kunden zu empfangen pflegte. Sein Meister saß mit einem Mann in rotem Umhang am Tisch. Sie hatten Dünnbier vor sich stehen.
„Ihr werdet sehr zufrieden sein. Es ist exzellent geworden. – Ah, Hans, da bist du ja. – Hans ist mein bester Arbeiter.“ Der Mann hob den Kopf und schaute ihn direkt an. Hans sah Augen wie Milch, deren Blick in seinen Kopf zu dringen schien. Es war soweit. Der Helläugige war gekommen, es abzuholen. Ein eiskalter Klumpen füllte seinen Bauch, seine Schultern fielen nach unten, er machte einen Buckel, und sein Kopf hing nach vorne. „Dann hol mal unser Prachtstück“, wies der Meister ihn an. Zu dem Fremden gewandt, schwärmte er: „Ihr werdet begeistert sein. Es ist erstklassig geworden, eine wunderbar dichte Struktur, eine Farbe wie gereinigtes Salz …“
Mehr hörte Hans nicht. Er hatte die Stube verlassen. Er musste es
Weitere Kostenlose Bücher