Vampyrus
Natürlich nicht, er konnte überall auf mich lauern. Es befiehl mich der unangenehme Gedanke, dass ich den Weg zur Bibliothek nicht zurückfinden und in Kardulgors Haus herumirren könnte. Ich zog die Vorhänge zu, löschte die Kerzen und legte mich schlafen.
Mein Schlaf war wie immer totengleich, tief und traumlos. Als ich die Augen wieder aufschlug, hatte sich wieder Düsternis in meinem Zimmer ausgebreitet. Im Kamin war nur noch graue, kalte Asche. Es war still, nicht einmal die Brandung der See war zu hören, offenbar hatte der Sturm aufgehört. Ich spürte, dass ich Durst hatte und für einen Moment spielte ich mit dem verrückten Gedanken, ihn an Kardulgor zu befriedigen. Doch wäre es nicht klug gewesen, sich mit einem so mächtigen Zauberer anzulegen. Überdies war fraglich, inwieweit mein Gastgeber überhaupt noch ein Mensch war.
Nach einer Weile wurde mir langweilig die Zimmerdecke anzuschauen. Vorsichtig öffnete ich die Tür meines Zimmers und spähte hinaus. Meine Augen waren an die Dunkelheit gewohnt und so hatte ich kein Problem auch ohne Licht zurechtzukommen, wenngleich es mit dem Kerzenleuchter bequemer gewesen wäre. Ein unbeleuchteter grauer Korridor erstreckt sich nach links und rechts. Ich erinnerte mich, dass ich am letzten Morgen von links gekommen war. Also schlug ich diesen Weg ein.
Ich tastete mich den stickigen Gang entlang. Immer noch war das Haus wie ausgestorben. Als ich um die erste Ecke bog, erlebte ich eine Überraschung. Ich befand mich direkt vor einer Türe, unter deren Spalt ein helles Licht hervor schien und die wie die Tür zur Bibliothek aussah. Der Weg war gestern viel weiter gewesen. Kardulgor musste mich im Kreis geführt haben, um mich zu täuschen. Nicht jeder Trick muss gleich magisch sein, dachte ich grimmig und drückte die Klinke. Dahinter befand sich tatsächlich die Bibliothek. Hinter dem Lesepult erwartete Kardulgor und lächelte, als könne er meine Gedanken lesen.
Kardulgor begrüßte mich und fragte, ob ich wohl geruht habe. Ich könne nun über das Grimoire verfügen. Anbei sei eine Liste von Textstellen, um deren Übersetzung er mich bäte. Mit diesen Worten entfernte er sich, wobei sein Gewand leise raschelte. Ich befand mich nun allein in der Bibliothek, die eine Atmosphäre der Erwartung ausstrahlte, gleichzeitig aber auch bedrückend war. Es war, als stünde ich unter strenger Beobachtung und dürfe mir nicht den kleinsten Fehltritt erlauben. Ich versuchte dieses Gefühl abzuschütteln. Verlernte ich hier meine Art zu denken?
Als Erstes wollte ich nun die Informationen suchen, die mich interessierten. Vielleicht würde ich hier endlich eine Formel finden, wie ich mich dem Tageslicht aussetzen konnte, was mir erlauben würde, unerkannt zwischen den Menschen zu leben. Es gab Gerüchte, dass einige meiner Brüder in Frankreich diese Fähigkeit vor langer Zeit entwickelt hatten, jedoch ihr Wissen geheim gehalten hatten. Vielleicht hatte Dracul davon erfahren und es in dem Buch festgehalten. Immerhin gab es viele, die behaupteten, der legendäre Vampirfürst hätte die Fähigkeit besessen, bei Tage zu wandeln, als er nach England aufbrach. Eine Reise, die bekanntlich zu seinem Ende geführt hatte.
Das Grimoire war alles andere als einfach zu lesen. Viele Abschnitte waren verschlüsselt. Andere waren in vergessenen Sprachen verfasst, sodass man die Zaubersprüche zwar rezitieren konnte, jedoch mit dem Risiko, dass man nicht wusste, was man tat. Ich kannte zwar viele Sprachen und behauptete von mir, dass ich schnell hinter versteckte Botschaften kam. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine Antwort auf meine Fragen entdecken.
Es mochten Stunden vergangen sein, als sich die Tür zur Bibliothek öffnete, und Kardulgor zurückkam. Als wüsste er, dass meine Suche vergeblich war, fragte er, ob ich zufrieden sei. Ich erwiderte, dass ich mehr Zeit bräuchte. Kardulgor nickte. Er hielt nun seine Hand über das Buch ohne es zu berühren und von selbst schlug es eine bestimmte Seite auf. Wenn es sich nicht um das Grimoire gehandelt hätte, hätte ich dies als billigen Zaubertrick abgetan, doch dass ein derart mächtiges Buch so mit sich umspringen ließ, verfehlte nicht seine Wirkung auf mich.
Hier sei eine der Stellen, die er nicht übersetzen könne, erklärte der Meister. Ich beugte mich über die komplizierten Schriftzeichen. Ja, ich würde es versuchen, aber es würde nicht einfach sein. Kardulgor nickte. Ohne ein weiteres Wort verließ er mich.
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