Van Helsing
von hinten gepackt. Scharfe Klauen! Aleera hatte sich wieder in ein Fledermauswesen verwandelt.
Anna spürte, wie sie vom Boden abhob ...
15
Carl musste nicht lange rechnen. Der Weg die Turmtreppe hinunter, durch das Erdgeschoss des Schlosses und die Treppe des zweiten Turms wieder hinauf würde ihn mehr Zeit kosten, als Van Helsing hatte, selbst falls sich ihm unterwegs kein Hindernis in den Weg stellte.
Gott ist mit den Mutigen!, sagte eine Stimme in seinem Kopf die Stimme eines Lehrers, den er nie besonders gemocht hatte. Gewiss, im Vatikan war er immer sehr mutig gewesen. Einige seiner Interpretationen des Evangeliums waren geradezu revolutionär gewesen. Und seine Abhandlung über die wahren Ursprünge der Cluniazensischen Reform im zehnten Jahrhundert hatte im Kloster ziemliches Aufsehen erregt.
Aber hier ging es nicht um intellektuellen Mut. Hier ging es um Van Helsings Leben. Damit war die Entscheidung gefallen. Rasch murmelte er ein Gebet und bat Gott um Kraft, dann lief er hinaus auf die alte Steinbrücke, die zu dem Turm führte, in dem Draculas Laboratorium untergebracht war.
Die Brücke war nicht einmal zwei Meter breit und die Brüstung, die ihn davor bewahrte, in die Tiefe gerissen zu werden, äußerst niedrig. Der Wind, der ihm dort oben um die Nase pfiff, war mehr als heftig. Das Wetter spielte verrückt, es blitzte und donnerte, und Regen prasselte auf ihn hernieder. Der Wind kam ihm vor wie eine bösartige Macht, die versuchte, ihn langsam über die Kante in den Abgrund zu stürzen.
Carl wusste, es war ein Fehler, in die Tiefe zu schauen, aber er konnte nicht anders. Als er wieder aufsah, schätzte er die Entfernung zum Turm ab. Es lagen über hundert Meter vor ihm, aber das größte Problem war, dass große Schlaglöcher und Schutthaufen den Weg versperrten.
Er dachte schon, es könne nicht mehr schlimmer kommen – da schlug ein Blitz auf der gegenüberliegenden Seite in die Brücke ein. Carl warf einen letzten wehmütigen Blick zurück ... und erblickte Igor, der sich anschickte, ihn anzugreifen.
Der Bucklige kam mit einer langen Metallstange auf ihn zugerannt. In letzter Sekunde wich Carl aus, sodass die Stange neben ihm in die Brüstung krachte. Funken flogen, und Carl stellte fest, dass es sich um einen elektrischen Viehtreibstab handelte.
Es kam also doch noch viel schlimmer.
Sobald Van Helsing wieder festen Boden unter den Füßen hatte, lief er auf Frankenstein zu ... und kam eine Sekunde zu spät. Schon war ein weiterer Blitz in den Konduktor eingeschlagen. Frankenstein schrie auf.
Van Helsing hörte, wie Dracula unten im Laboratorium triumphierend rief: »Noch ein Blitz, und dann werden meine Nachkommen leben!«
Nicht, wenn es nach mir geht!, dachte Van Helsing.
Es war eine Weile still, dann hörte er ein Geräusch, das ihm bekannt vorkam: Dracula verwandelte sich wieder in eine Fledermauskreatur. Er hatte Van Helsings Anwesenheit gespürt.
Ich bin ja auch zum Kämpfen gekommen, dachte Van Helsing. Zuerst musste er allerdings noch etwas anderes erledigen. In Windeseile löste er die restlichen Gurte von Frankensteins Brust. Der Hüne brüllte vor Schmerzen, als die Nieten aus seinem Brustbein gerissen wurden, aber daran würde er nicht sterben.
Van Helsing wandte sich gerade noch rechtzeitig um, um die große Fledermaus heranschweben zu sehen: Dracula. Schon die weißen Kreaturen, in die sich die Bräute verwandelten, hatte er als grässlich und Furcht erregend empfunden, aber der Graf war noch wesentlich größer und viel muskulöser. Sein Kopf wirkte nicht sehr menschlich: Das Gesicht sah mehr nach Fledermaus aus. Er hatte kantige Züge, spitze vorstehende Zähne und rote Augen.
Die Spannweite seiner Flügel betrug über sechs Meter, und an den Händen hatte er lebensgefährliche scharfe Krallen. Als Van Helsing ihn ansah, beschlich ihn das merkwürdige Gefühl, Draculas wahre Gestalt vor sich zu haben. An ihr war nichts Menschliches mehr, nur Heimtücke und Blutrünstigkeit.
Die Kreatur war schnell. Sie griff im Sturzflug an und stieß Van Helsing rückwärts gegen Frankensteins Käfig. Er prallte ab, segelte durch die Luft und stürzte durch das Dachfenster ins Laboratorium. Er fiel an die zwanzig Meter tief und schlug hart auf.
Er sah Funken fliegen und Flammen auflodern, stellte jedoch erstaunt fest, dass er lebte – und noch dazu aufrecht stand. In vierhundert Jahren war Dracula niemals einem Feind begegnet, der ihn ernsthaft in Bedrängnis gebracht
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