Van Helsing
Luft baumelte. Er hörte, wie der Hüne kämpfte, über seine Fesseln fluchte und um das Leben rang, das ihm sein »Vater«, sein Schöpfer, geschenkt hatte. Diesen Kampf würde er nicht alleine führen müssen – nicht mehr.
Behände kletterte Van Helsing an der glatten Wand hoch. Einem Menschen war so etwas eigentlich nicht möglich, aber Van Helsing war mit jeder Minute, die verstrich, immer weniger ein Mensch.
Er erreichte ein Gerüst, auf dem ein Dwerger stand und sich erschrocken zu ihm umdrehte. Er hatte seine Schutzbrille hochgeklappt, und zum ersten Mal sah Van Helsing in die Augen einer dieser abscheulichen Kreaturen. Sie hatten große Pupillen, dunkle Höhlen mit kleinen weißen Ringen, die mit dicken roten Adern überzogen waren.
Bevor das widerliche Ding schreien konnte, packte Van Helsing es mit einer Hand, klatschte es an die Wand und warf es in einen dunklen Winkel des Laboratoriums. In all dem Lärm und Getöse schien unten niemand Notiz davon zu nehmen.
Anna und Carl starrten wie gebannt auf die Spritze in dem Glas mit der klebrigen Schmiere. »Machen Sie, holen Sie es!«, rief Anna ungeduldig.
»Gehen Sie doch!«, gab Carl zurück. »Eines habe ich inzwischen gelernt: Man sollte niemals als Erster seine Hand in eine zähflüssige Substanz stecken!«
Wie Anna zugeben musste, hatte er vollkommen Recht. Dracula hatte sich eine fast uneinnehmbare Festung geschaffen, und da hatte er mit Sicherheit auch dafür Sorge getragen, dass er als Einziger an das Gegenmittel herankam.
Als Anna eine ihr wohl bekannte Gestalt bemerkte, die sich im Glas widerspiegelte, wirbelte sie um die eigene Achse. Vor ihr schwebte Aleera. »Kluger Junge«, lobte sie.
Als Carl erschrocken auffuhr, riss Anna ihn mit einer schnellen Bewegung hinter das Glas zurück. Aleera sank lächelnd zu Boden. »Habe ich dich erschreckt?«, säuselte sie.
»Nein«, antwortete Carl, obwohl ihm die Angst ins Gesicht geschrieben stand.
»Dann muss ich es wohl noch einmal versuchen.« Sprach's und kam drohend auf die beiden zu.
Entschlossen zog Anna ihr Schwert und schlug das Glasgefäß vom Podest. Es zersplitterte auf dem Boden, und Aleera wurde mit Schleim bespritzt. Die zähflüssige Masse brannte sich wie Säure in ihre Haut und sogar in den Steinboden.
Aleera brüllte vor Schmerz und Wut, und ihr Geheul klang mehr nach dem brutalen Tier, das sie war, als nach der schönen Frau, die sie zu sein vorgab.
Carl war fast verrückt vor Angst. »Sehen Sie? Was habe ich gesagt!«, rief er und zeigte auf die Säureflecken.
»Nehmen Sie das Ding!«, schrie Anna. Sie behielt die verletzte Aleera im Auge und hob das Schwert. Gleichzeitig verfolgte sie, wie Carl seinen Rocksaum hochriss, um die Spritze aufzufangen. Sie verschmorte den Stoff, und Carl hopste und kreischte, verlor sie aber nicht. Als Anna sah, dass Aleera zumindest für den Augenblick keine Bedrohung war, ging sie das Wagnis ein: Sie suchte sich eine Glasscherbe und nahm damit etwas von der klebrigen Flüssigkeit auf. Dann lief sie zu dem Gitter und spritzte die Stäbe damit voll. Wie sie gehofft hatte, fraß die Säure sich in das Eisen und brannte Löcher hinein.
»Kommen Sie!«, rief sie Carl zu, der sofort herbeieilte. Die Spritze schmorte immer noch in seiner Rockfalte. Sobald er nah genug war, packte sie ihn und schob ihn durch das zerstörte Gittertor hinaus. »Gehen Sie! Gehen Sie!«
Doch noch ehe sie selbst fliehen konnte, wurde sie mit unglaublicher Kraft gepackt und herumgewirbelt. Aleera stand vor ihr; die Verbrennungen in ihrem Gesicht heilten vor Annas Augen. »Du kannst erst gehen, wenn ich dir meine Erlaubnis erteile!«
»Laufen Sie, Carl!«, schrie Anna.
»Und die bekommst du, wenn du tot bist«, erklärte Aleera freundlich. Inzwischen waren alle Wunden vollständig verheilt. Zuletzt war Anna der Vampirin in dem Budapester Ballsaal so nah gewesen. Damals hatte die Prinzessin Angst gehabt, aber nun war sie ruhig und entschlossen. Sie dachte an das Blut ihrer Vorfahren, das in ihren Adern floss.
Sie besaß die Entschlossenheit, Aleera die übermenschliche Stärke. Die Vampirin packte Anna und schleuderte sie durch den Raum wie eine Puppe. Hilflos schlitterte die Prinzessin über den Boden, und ihr Schwert segelte davon.
Mit einer schnellen Drehung seiner Handgelenke katapultierte Van Helsing sich in die Luft und durch das offene Fenster. Geräuschlos landete er auf dem Dach. Links und rechts von ihm stand je ein Dwerger. Einer hatte eine Eisenstange, der
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