Vanessa, die Unerschrockene
und davon.
„Hey, das hab ich beinah vergessen. Wir trainieren da drüben! Von halb fünf bis halb sieben! Auf Platz drei! Hast du mich verstanden?“, rief Alex hinter mir her und ich hatte ihn verstanden! Das könnt ihr mir glauben! Endlich hatte ich es geschafft. Nach drei langen Jahren. Nach drei Jahren Folter und grausamer Demütigung bei den Holsteiner Schwalben durfte ich endlich mit der Jungenmannschaft trainieren. Ich trampelte wie wild in meine Pedale. Meine Kraft war plötzlich unendlich groß. Das war der erste Schritt auf dem Weg zur Erfüllung meines größten Traums, und ich hatte ihn soeben geschafft. Ja, ich, Vanessa Butz, ich wollte die erste Frau sein, die in der Männernationalmannschaft spielt. Ja, ihr habt richtig gehört, und lasst mich in Ruhe damit, dass das nicht geht. Ich werde es euch schon beweisen. Davon war ich an diesem Tag fest überzeugt, und ich raste auf meinem Fahrrad über die Felder hinweg und über den Damm. Erst als ich das Meer sah und es hören und schmecken konnte, erst da hielt ich an und schrie mein Glück in den Wind. Was war das für ein Tag – und morgen war mein neunter Geburtstag!
NEIN!
Die Fahrertür fiel ins Schloss: ganz leise: ,Sss-klack!’, machte es nur, immerhin war es die Tür eines Mercedes. Doch dieses leise ,Sss-klack!’ war das mächtigste und grausamste Geräusch meines Lebens. Mit diesem ,Sss-klack!’ starb die Welt um mich herum, als hätte sie jemand mit einem Fingertipp auf einen Tastsensor ausgeschaltet.
Danach war es still. Totenstill. Nur in mir schrien Wut und Verzweiflung und sie schrien so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Sie schrien einfach nur: NEIN!
Doch es hörte sie niemand.
Ich saß auf dem Beifahrersitz und lehnte mein Gesicht gegen die kalte Fensterscheibe. Ich saß da und sah – wie im Traum – meiner eigenen Beerdigung zu.
Der Wagen erzitterte leicht, als mein Vater den Motor startete. Dann fuhren wir los. Lautlos, als verließe ich meinen Körper, schwebte ich ein letztes Mal durch die Straße, in der ich seit meiner Geburt gelebt hatte. Lautlos und stumm schwebte ich aus der Stadt, und ab und zu spürte ich heiß und kalt den Blick meines Vaters auf meinem Nacken.
„Hey, alles klar?“, fragte er mich auf der Auffahrt zur Autobahn. Ich hauchte eine Sprechblase aufs Glas, wie in einem Comic-Heft. Doch die Sprechblase blieb leer.
„Ich verstehe“, sagte mein Vater, und an jedem anderen Tag hätte ich es ihm auch geglaubt. Dann gab er Gas.
Ich starrte durchs Fenster hinaus und sah nichts. Ab heute hatte ich eine neue Adresse: Waldfriedhofstraße 7 in einem Vorort von München, über 800 Kilometer von Hamburg und Alex und der Crème de la Crème der Holsteinschen E-Jugendmannschaften entfernt.
Ich hatte es einfach vergessen. Dabei war es seit über zwei Jahren geplant. Vor zwei Jahren hatten mein Vater und meine Mutter damit begonnen, ein Haus in München zu bauen. Ihr Haus. Ihr Traumhaus an ihrem Traumort in ihrer Traumstadt mit einem Traumjob. Und zu diesem Traumjob und Traumhaus waren wir jetzt unterwegs. Das Spiel am Vormittag gegen die Pinneberger Kickerdirn war mein Abschiedsspiel gewesen und vor der Ankunft des Vereinsbusses und vor dem Gespräch mit Alex war das auch völlig in Ordnung für mich. Schlimmer als bei denen konnte es auch in München nicht sein. Da hießen die Mädchenmannschaften vielleicht ,Fuaßballmadeln’ oder ganz fesch ,Dandle-Dirndle’. Das machte den Kohl auch nicht fetter, als er schon war. Doch nach dem Gespräch mit Alex hatte sich plötzlich alles komplett geändert. Nach dem Gespräch mit Alex war Mädchenfußball für mich undenkbar geworden. Ich gehörte jetzt zu der Jungenmannschaft dazu.
Dafür hatte ich drei lange Jahre gekämpft und gelitten. Dafür hatte ich drei lange Jahre alles ertragen, von Amelie Dessert bis hin zu Frau Zimperlich. Drei Jahre lang hatte ich mich von den Jungen auslachen lassen, doch ich hatte immer gewusst, dass ich es irgendwann schaffe. Ich wusste, dass ich mindestens so gut wie ein Junge bin, wenn nicht noch besser. Und für einen Vormittag war ich fest davon überzeugt, dass ich es allen beweise und dass ich irgendwann einmal wirklich in der Männernationalmannschaft spielen werde.
Doch jetzt entfernte ich mich mit jedem Kilometer einen Kilometer von meinem Traum. Und mit jedem dieser Kilometer wurde es mir bewusster, dass ich nicht noch einmal von vorn anfangen kann. Ich würde es nicht noch einmal ertragen in einer
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