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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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angefertigt worden waren. Er warf das Paar bei der nächsten Gelegenheit in den am Straßenrand aufgestellten Container einer barmherzigen Institution, die der Aufschrift nach ihr Sammelgut armen afrikanischen Kindern zukommen ließ. Bei dem Gedanken an die Verteilung wollte sich beinahe Schadenfreude einstellen: „Und hier haben wir ein Paar schöne Socken, fast ungetragen und für alle Größen geeignet. Omar, das wäre doch etwas für dich.“ Der junge Somali Omar würde die Dinger als Halstuch oder Mütze tragen oder sie gleich auf dem heimischen Trödelmarkt verkaufen. So könnte die Spende trotz ihrer Absurdität doch noch irgendeinen Sinn haben.
    Bei Hemden war das Problem ungleich größer. Seit er nach dem Studium begonnen hatte, einer Tätigkeit für Erwachsene nachzugehen und damit Geld zu verdienen, trug er Hemden. Das war eine grundsätzliche Entscheidung, denn er glaubte, Kindheit und Adoleszenz mit ihrer Uniform aus T-Shirt, Jeans, Sweat-Shirt und Sportschuhen nicht künstlich verlängern zu dürfen. Er gehörte jetzt zu einer höheren menschlichen Lebensform, die sich außer durch die geregelte, bezahlte Tätigkeit durch andere Bekleidungsrituale zu erkennen gab. Er bedauerte diesen Schritt nicht. Er mochte Kragen und Manschetten, mochte Hemden als Zeichen für seinen Status und eines neuen Körpergefühls, das damit einherging. Er wechselte sie wenigstens zweimal am Tag.
    Allerdings entstanden im Laufe der Zeit an seinem Körper Formveränderungen, mit denen die Hersteller offensichtlich nicht gerechnet hatten. Die Kragen waren entweder zu eng oder zu weit; die Vorderteile spannten an Bauch und Brust oder bildeten verschwenderische Baumwollwolken über Bauch und Hüften; und die Ärmel erwiesen sich immer als zu lang oder zu kurz. So blieb ihm nur die Wahl, unangenehm einengende oder lächerlich bauschige Exemplare zu erwerben. Dann, vor einigen Monaten, als er vor die Haustür trat und das Winken von Tante Annie erwiderte, kam ihm ein Gedanke.
    Er überquerte die Straße und fragte die liebenswürdige alte Dame, ob sie Konfektionsware in Maßanfertigungen umschneidern könnte. Sie lächelte mil de und erklärte, dass genau das eigentlich ihr Beruf sei: Unpassendes in Passendes zu verwandeln. Sein aktuelles Körpervolumen war vermessen worden, als sie sein Überfallhemd in den Zustand einer Reliquie versetzt hatte. So war das Geschäft schließlich zustande gekommen. Er kaufte jetzt Hemden der Größe vierundfünfzig und ließ sie von Tante Annie zu einer zweiten Haut umwandeln.
    In seinen Augen waren die Schneider durch dieses Erlebnis zu einer sehr wichtigen, maßlos unterschätzten Zunft geworden. Obwohl er momentan daran zweifelte, sich diese segensreiche Dienstleistung trotz seiner Hochachtung in Zukunft noch leisten zu können. Seit er der neuerdings wieder bei ihren Eltern wohnenden Wilma monatlich tausend Mark überwies, hatte sein Konto die Neigung, nach Eingang des Gehalts mit unvernünftiger Geschwindigkeit ständig neue Rekorde im freien Fall zu erringen. Und noch erhielt er ein Gehalt! Das dürfte nun nicht mehr lange der Fall sein, da auch seine letzte Reportage wieder durchgefallen war.
    Es ging dabei um eine ortsansässige Firma, die mit ihren riesigen, orangefarbenen Lastwagen unter dem leicht nekrophilen Motto „Ihre Reste für eine bessere Zukunft“ den Müll aus der ganzen Region zusammentrug und in einem angeblich hochtechnischen Prozess in wertlose und irgendwie noch nutzbare Materialien trennte. Er war erfreut gewesen, vom Chef endlich mal wieder mit einer anscheinend interessanten Aufgabe betraut zu werden. Er sollte ein Interview mit einem Mitglied der Unternehmensleitung führen, sich ein wenig umsehen, ein paar kluge Fragen stellen und dieses Material dann in Form einer Reportage von nicht weniger als zwanzigtausend Zeichen verwerten. Fotos und Zitate würden von der Firma nachgereicht werden. Das schien eine bessere Gelegenheit zu sein, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, als die nickenden Roboter vom letzten Jahr.
    Er war morgens um vie rtel vor sieben von einem außerordentlich ausgeschlafenen PR-Manager höflich empfangen worden, der ihm Kaffee, Gebäck, Zigaretten und auch einen sehr guten Cognac angeboten hatte, den er allerdings angesichts der frühen Stunde abgelehnt hatte. Er konsumierte hundemüde eine vierzigminütige Präsentation über das Unternehmen, über rasantes Wachstum, vorbildliche Mitarbeiterbeteiligung und ähnlichen, häufig fiktiven

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