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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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in Straßenkleidung an großen Schaltpulten und Bildschirmen zu sehen waren. Hier unten dagegen roch es bestialisch: nach Verwesung in allen nur denkbaren Stadien, nach Schimmel, nach Moder, nach Fäulnis, nach Urin und Exkrementen.
    Tom sah sich nach seinem eloquenten Gesprächspartner um, doch der war angesichts dieser Kloake aus höllische n Gerüchen und Geräuschen erblasst und vollkommen verstummt. Denn der Lärmpegel war enorm. Die Antriebe der Bänder brummten, dröhnten und kreischten in einer unbeschreiblichen Kakophonie. Die anscheinend überwiegend aus dem Süden Europas stammenden Arbeiter, fast vollständig in mondfahrttaugliche Kunststoffanzüge gehüllt, erzeugten ein seltsam schnatterndes, durch den Hall in eine niemals zuvor gehörte Sprache mündendes Geräusch. Selbst der Müll gab bei Transport und Bearbeitung scheppernde, rasselnde, knisternde und schlürfende Töne von sich, und kleine Traktoren, die mit ihrer Rotte von Anhängern auf unsicherem Kurs die unübersichtliche Topographie durchquerten, steuerten röhrenden Diesellärm bei.
    Durch haushohe Rolltore in den S eitenwänden wurden ohne Unterlass Waggonladungen von übelstem Dreck in das Innere der Halle transportiert, wo die Arbeiter einzelne Bestandteile nach unerfindlichen Kriterien aus dem stetigen Strom herausfischten und in graue Kübel mit kryptischen Beschriftungen wie „J 210“ oder „W 2341“ warfen. Das einzig Technische hier unten schienen die Traktoren und diese breiten, besudelten Bänder zu sein, die triefend und sabbernd ständig Nachschub anschleppten. Sie waren wohl für die Ewigkeit ausgelegt, denn während der gesamten, etwa zwanzig Minuten dauernden Besichtigung entrang sich ihnen trotz der übelriechenden, sicher auch ätzenden Konsistenz der in die Eingeweide der Antriebsmaschinen herabrinnenden Brühe kein vernehmbares Stöhnen der Qual, kein Prusten des Ekels.
    Der PR-Manager, mittlerweile aus geheimnisvoller Quelle mit einem Mund- und Nasenschutz versehen, war im Laufe ihres Rundgangs wieder etwas munterer geworden und dozierte über die Idee eines idealen Kreislaufs, in dem sich verbrauchte Waren in neue, wertvolle Güter verwandelten. Seine statistischen Zahlen waren erschreckend. Wenn sie stimmten, so würde ein durchschnittliches Land der westlichen Zivilisation innerhalb von etwa dreißig Jahren in seinem eigenen Müll ersticken. Alternativen, so führte er aus, waren der Aufbau einer funktionierenden Exportwirtschaft mit Zielrichtung unterentwickelte Länder, das Anlegen stinkender, krähenumschwärmter neuer Landschaften mit künstlichen Höhenzügen oder eben die möglichst vollständige Wiederverwertung. Tom unterbrach ihn und fragte, ob er eine Gruppe nahebei stehender Arbeiter über ihre Meinung zu diesem Thema befragen dürfe. Sein Begleiter schüttelte nur leicht den Kopf, legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn zwar lächelnd, aber mit eisernem Griff zur Schleuse zurück. Draußen in der sauberen Luft des Bürotraktes atmete Tom tief auf und entfloh trotz der Einladung zu einem weiteren Kaffee in die heimische Umwelt, so schnell es die Höflichkeit erlaubte.
    Sein Artikel, den er nach zwei Tagen intensiver Arbeit der wöchentlichen Redaktionskonferenz vorlegte, verfocht zwar mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Wiederverwertung von gebrauchten Gütern. Aber er hatte sich auch mit der olfaktorischen, akustischen und visuellen Wirklichkeit in den Produktionsstätten auseinandergesetzt und dabei die Frage aufgeworfen, ob dieses geradezu lebensfeindliche Umfeld auf Dauer für Menschen zumutbar wäre. Er wusste bereits bei der Vorstellung seines Textes, dass er erneut das Thema verfehlt hatte. Sein Chefredakteur schätzte „Menschelei“ nicht – außer in Fällen wie dem, wo eine vereinsamte alte Dame ihre verstorbene Katze verspeiste, um dem abgemagerten Körper den Weg in die Abdeckerei zu ersparen.
    Aber von derart spektakulären Ereignissen war hier nicht die Rede. Im Gegenteil, Tom kritisierte ohne einen wichtigen Grund einen der erfolgreichsten Arbeitgeber der Stadt. Sein Chef hatte sich vor allen anderen Redakteuren ereifert. „Warum pisst du ausgerechnet Doktor Schmidtle in die Suppe?“, hatte er gebrüllt. Und er führte neben dem sinkenden Anzeigenaufkommen auch noch die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland an. „Willst du hunderte von ungelernten Arbeitern um Brot, Bier und Farbfernseher bringen?“, tobte er. „Willst du, dass Afrikaner oder Asiaten dieses

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