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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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wahrscheinlich nicht einmal für einen Verliebten. Außer ihren Augen und Brüsten gefiel mir nichts an ihr. Sie roch nicht anheimelnd, sie klang nicht gut. Sie bewegte sich geschmeidig und jugendlich, aber es war keine Anmut darin. Um das Orchesterbild noch einmal zu benutzen: Ein paar der Instrumente sahen schön aus, aber der Klang stimmte nicht. Und doch brachte sie damit überwältigende Kompositionen zur Aufführung, wie ich in der Nacht erlebt hatte. Eine erstaunliche Person, ein Rätsel. Ich beschloss, es nicht zu lösen, sondern ihr in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Das wenige, was sie von sich offenbart hatte, war nicht dazu angetan, mich mit positivem Interesse oder gar Sehnsucht nach ihrer Gesellschaft zu erfüllen.
    Sie wuss te das alles. Sie war sehr klug, und sie besaß eine immense Intuition. Ich wartete auf einen Anruf und hatte mich darauf vorbereitet, sie auf später und immer später zu vertrösten. Aber als sie eines Abends nackt einfach in mein Wohnzimmer spazierte, wo ich nach einem Kneipenbesuch noch einen langweiligen Krimi anschaute, war ich sprachlos. Sie nahm mich an der Hand, zog mich hoch und schob mich ins Schlafzimmer. Ich dachte immer nur: Wie? Wie hat sie das gemacht? Es gab eine einfache Antwort. Als sie morgens gegangen war, hatte sie die Schlüssel auf dem Garderobentischchen miteinander verglichen und festgestellt, dass zwei identisch waren. Sie hatte sie an der Wohnungstür ausprobiert und festgestellt, dass beide passten. Also hatte sie einen eingesteckt.
    Egal. Ich war noch nicht so weit, eine nackte Frau einfach auf die Straße zu setzen. Außerdem war ich jung. Da reagieren Teile von uns höchst unvernünftig. Sie schwang wieder virtuos ihren Dirigentenstab, bis wir beide nur noch hechelten und seufzten, und schlief ein. Ich deckte uns zu, machte die Lampe aus und starrte ratlos ins Dunkle. Was war das für ein merkwürdiger Film. Ich beschloss, ihr das eigenmächtige Eindringen in meine Wohnung unmöglich zu machen. Ich wollte ihr den Schlüssel zu meiner Wohnung wegnehmen, während sie schlief, und die beiden Passenden verstecken. Doch kaum hatte ich mich vorsichtig auf die Bettkante zubewegt, um leise aufzustehen, da klingelte das Telefon.
    Sie war sofort dran, denn sie lag auf der Seite, auf der es stand. Ich sagte ja: klug. Ja, sagte sie. Dann: Ja, ich weiß. Ich lag stocksteif da und schwitzte. Was ging hier vor? Nein, heute geht es nicht, sagte sie. Aber ruf an, wenn du es hast. Jederzeit. Sie legte auf, lächelte mich an und fragte: Und wo wolltest du hin, mein Dickerchen? Sie war ein Alien, das war mir jetzt klar. Ich wollte dich nicht stören, hörte ich mich antworten. Ich wollte auf Toilette und dann noch ein wenig lesen, weil ich noch nicht schlafen kann. Sie nickt e und sagte: Dann tu das. Schloss die Augen, strich sich über den Bauch und schlief wieder ein. Wenn das, was Aliens nachts tun, schlafen ist. Also stand ich auf, ging auf die Toilette und legte mich dann auf das Sofa, um wenigstens scheinbar noch etwas zu lesen. Dabei war ich todmüde, aber jetzt auch noch verängstigt. Ich quälte mich schrecklich, um wachzubleiben, kochte mir mehrere Espresso und turnte ständig herum. Aber als ich vor Schlafbedürfnis kaum mehr geradeaus schauen konnte, begann ich mit der Suche. Ich leerte im verschlossenen Bad ihre Handtasche aus. Das Übliche: Lippenstifte, Wimperntusche, Brieftasche, Tampons, Pillen, auch Schlüssel. Aber nicht meiner.
    Ich durchsuchte ihre in der ganzen Wohnung verstreuten Kleidungsstücke. Nichts außer ein paar Münzen und ein schweres Goldarmband mit der Gravur 8973 und einem Stern dahinter. Ich wagte mich ins Schlafzimmer und schaute, ob sie hierhin etwas mitgebracht hatte, was als Aufbewahrungsort für einen Schlüssel hätte dienen können. Nichts natürlich. Sie hatte mich völlig nackt hierhergeführt. Ich kam auf den Gedanken, da ss sie ihn in sich trug, war mir aber sofort bewusst, dass das Unsinn war. Schließlich wusste ich eines mit Gewissheit: In sich trug sie nichts außer dem, was dort hingehörte. Wo hatte sie ihn?
    Ich stolperte durch die Wohnung, visierte immer die gleichen, schon untersuchten Gegenstände an und schlief fast ein dabei. Und dann stand ich vor dem Garderobentischchen, sah mich im Spiegel an und bemitleidete mich, als mein Blick unversehens abwärts rutschte und auf der Tischplatte zwei identische Schlüssel wahrnahm. Sie hatte ihn einfach neben meinen gelegt. Komm, ein letztes nehmen wir noch, oder? Andrea!

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