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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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Geschäft übernehmen? Du humanduselst. Glaubst du, die kümmern sich um Vierunddreißigkommadreisiebenfünf-Stundenwoche, Urlaubsanspruch und regelmäßig ausgezahlte Gehälter?“
    Der Artikel wurde einstimmig abgelehnt und bescherte ihm darüber hinaus einen kurzfristig anberaumten Termin für ein Personalgespräch, in dem sein Chef erstmals ganz offen mit Entlassung drohte. „Du schreibst ja eine gefällige Feder, Tom, und so etwas gibt es in der Provinz nicht allzu oft. Ich würde dich wirklich gerne halten. Aber unser Ha us bezahlt dich nicht dafür, dass du deine Talente in den Dienst eines esoterischen Skeptizismus stellst.“ Er erläuterte kurz, was er für das Fundament des westlichen Wohlstandes hielt. „Es geht den meisten von uns einigermaßen gut, weil jeder glaubt, dass alles nicht so schlimm ist, wie es scheint. Und dass alles weniger Gute gebessert werden kann. Natürlich ist das Quatsch. Aber dieses Lebensgefühl ist es, das wir unterstützen müssen, damit nicht alles zusammenbricht. Rezession ist schließlich nichts weiter als Frustration, Langeweile, Konsumverzicht, Verzweiflung und Arbeitsverweigerung. Halt dich daran, mein Lieber, sonst bist du aus dem Spiel. Und jetzt raus!“
    Tom hatte sich seit seiner harmlos aufmüpfigen Jugend aus der Politik herausgehalten, in der er eine für extrem eitle Mitspieler geschaffene Form der Burleske sah. Aber das Ultimatum seine s Chefs machte ihm deutlich, dass er seit Jahren unwissend in einem Theaterstück agierte, dessen wahre Handlung er nicht erkannt hatte. Wie sah seine Rolle aus? Als Angestellter des Verlags schuldete er seinem Arbeitgeber Loyalität. Er hatte bislang noch nie ausgelotet, was das in seinem speziellen Fall bedeutete. Jetzt war sie ihm höchst nachdrücklich anempfohlen worden: Er sollte im Extremfall das Positive der Hölle beschreiben – Fortschritt, Reinigung, Vorbereitung auf ein besseres Leben.
    Er verspürte bei dieser Vorstellung durchaus keinen Widerwillen, sondern sah sogar eine Erweiterung seiner Gestaltungsmöglichkeit en vor sich. Die Reihenfolge musste stimmen: Recherchieren, Nachdenken, Schreiben. Bei ihm kam in letzter Zeit die Reflexion erst nach dem Schreiben. Vielleicht zeigte sich in dieser Unprofessionalität sein aktueller, wenig zufriedenstellender Geisteszustand.
    Aber das entschuldigte seine Schlamperei nicht. Der Chef hatte recht. Bei seinem Beitrag handelte es sich um den albernen Schulaufsatz eines selbstverliebten Sechzehnjährigen. Dabei moch te er das Komponieren, das bewusste Formen und Gestalten eines Textes. Nur, um der Kunst großer Vorbilder auf die Schliche zu kommen, hatte er studiert. Aber es gab noch eine Chance. Er würde eine zweite, sehr anmutige und erbauliche Version fabrizieren. Mülltrennung und Wiederverwendung – eine sehr fortschrittliche und humane Idee, die wie alle Kinder kurz nach der Geburt noch ein wenig unsauber wirkte. In späteren Phasen, wenn die Technik weiter entwickelt war, würden unermüdliche Maschinen in unsichtbaren Katakomben die schmutzige Arbeit übernehmen, während die Menschen, fröhlich kaffeetrinkend, von nett eingerichteten Leitständen herab die Tätigkeit der Roboter überwachten und steuerten. Und dann durfte man nicht vergessen, dass das unappetitliche Kind momentan immerhin dreihundertvierundfünfzig schlecht ausgebildeten Männern und Frauen einen Arbeitsplatz als Ammen und Pfleger garantierte. Er fühlte sich wie ein antiker Ritter, der ohne Nachdenken sein Schwert für das vermeintlich Gute schwingt und mitten in der Schlacht feststellen muss, dass er auf der falschen Seite kämpft.
    Er hielt es in der Redaktion nicht mehr aus. Zu viel ging ihm durch den Kopf. Nicht nur seine Texte, er selbst benötigte eine Korrektur. Er packte seinen Aktenkoffer und verließ das Gebäude durch den Nebeneingang, um niemandem zu begegnen. Er brauchte jetzt anonyme, mit sich selbst beschäftigte Menschen um sich, die ihn in Ruhe nachdenken ließen. Dazu starken Kaffee und milden Cognac. Einfach zurücklehnen und entspannen beim Lesen der Gesichter um ihn herum, das Brennen des Branntweins in der Kehle und das gesunde, starke Stampfen des Herzens nach dem Espresso. Und dann würde er nach Hause gehen und sich einen tiefen, erholsamen Nachmittagsschlaf gönnen, bevor er ins Brit ging, um die Vorfreude auf den kommenden Tag zu genießen. Denn da würde die atmende, bewegende Geschichte des Ali D. ihren Anfang nehmen, der der westlichen Zivilisation durch beispiellosen

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