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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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würdelosen Vorfall zwei Tage zuvor. Schließlich legte ich mich auf das Sofa und döste ein.
    Ihr Anruf kam um elf und schreckte mich aus dem Schlaf. Na, heute nüchtern? fragte sie. Ich sagte ja. Dann sprach sie jedes Wort klar und deutlich aus, als wollte sie sichergehen, dass auch ein verschlafener, versoffener Raucher wie ich alles verstand: Ich sitze in der Bahnhofskneipe von Tilmannsdorf. Ich könnte mit der Bahn nach Hause fahren. Aber das ist langweilig. Du könntest mich abholen, wenn du willst. Na, wie findest du den Wein? Scheußlich, oder? Bleib beim Bier, da kann nichts passieren. Du weißt ja, wo Tilmannsdorf ist. Gut dreißig Kilometer in die Pampa, schlechte Straßen, Schafe und andere Viecher laufen herum, kaum Beleuchtung. Was zum Teufel machte sie dort? Und was war mit ihrem Auto? Ich war so müde, dass ich am liebsten abgelehnt hätte. Doch dann sah ich das Glitzern in ihren Augen und – ich will es nicht verschweigen – ihre Brüste wieder vor mir, und ich sagte: Ich bin unterwegs.
    Hastig warf ich eine warme Jacke über, rannte die Treppe herunter und sprang in mein Auto. Ich jagte es aus der Stadt und tauchte in die nächtliche Dunkelheit ein. Ich brauchte ungefähr zwanzig Minuten. Sie saß allein in der Bahnhofshalle vor einem Glas Wasser. Niemand war mehr da. Der Ausschank war verrammelt, der Bahnhofsvorsteher war im Bett, Reisende gab es um die Zeit nicht mehr. Ich stieß die Tür auf und ging auf sie zu. Gelassen erhob sie sich, streifte ihre Jacke über und kam mir entgegen. Als sie vor mir stand, lächelte sie. Keine Fragen, mein Kleiner, sagte sie und strich mir mit der Hand über die Wange, ich brauche heute nacht dein Bett. Danach schwieg sie. Ich fuhr zu mir, ging hinter ihr die Treppe zu meiner Wohnung hinauf und fragte mich, was hier geschah. Ich hatte offensichtlich eine Nebenrolle in einer dieser Rätselnovellen von Arthur Conan Doyle. Noch während sie den Flur entlangging, begann sie, sich zu entkleiden. Völlig achtlos warf sie Jacke, Pullover, T-Shirt und BH von sich und tapezierte den Teppichboden damit.
    Dann war sie im Bad. Da sie die Tür nicht schloss, sah ich im Vorbeigehen, wie sie Hose, Slip und Socken herunterstreifte. Dann das klingende Geplätscher, das man bei einer Geliebten so gerne hört, bei Fremden aber lieber ignoriert. Und schließlich kam sie zu mir ins Wohnzimmer, nahm mich bei der Hand und führte mich zum Bett. Eine eigenartige Situation, das kannst du mir glauben. Schließlich war ich hier zu Hause. Komm, lass uns noch zwei bestellen. Ach, schau mal, er ist auch wieder da. Na er, der immer dahinten in der Nische sitzt und schreibt. Andrea, bitte noch zwei Bier. Danke. Also. Sie legte sich auf das Bett und folgte mit den Augen jedem meiner Handgriffe, als ich mich auszog.
    Ich bin ja nicht prüde oder übermäßig schüchtern, aber bei diesem gelassenen, aufmerksamen Blick hätte ich tiefste Dunkelheit vorgezogen. Ich fühlte mich furchtbar unsicher. Als ich mich dann zu ihr legte und s ie küssen wollte, sagte sie: Lass mich machen, leg dich einfach nur hin. Und sie begann mich zu führen, gab Rhythmus und Tonlage vor, wählte den Einsatz der Instrumente, entschied über Intervalle, Lautstärke und Ausdruck. Wie wenn ein begnadeter Schlagzeuger nur für sich ein träumerisches Solo spielt und dabei zärtlich alle seine Lieblinge berücksichtigt. Ich war das Werkzeug. Aber da sie mich auf eine erstaunlich professionelle Art handhabte, ließ ich mich gerne zum Klingen bringen.
    Danach legte sie sich auf den Rücken, seufzte leise mit schon geschlossenen Augen und strich sich mit der Hand über den leicht vortretenden Bauch. Und schlief ein. Ich deckte uns noch zu. Was sonst hätte ich tun sollen? Als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie fort. Kein Zettel, keine Lippenstiftschmiererei auf dem Badezimmerspiegel, kein Slip auf dem Kopfkissen. Außer ihrem Geruch in der Bettwäsche sprach nichts in der Wohnung von ihr. Irgendwie wollte sich allerdings auch keine Enttäuschung einstellen. Ein Frühstück mit einer kühlen, überlegen lächelnden Gespielin hätte mich nur noch mehr verwirrt. Und Sprechen war nicht gerade ihre bevorzugte Beschäftigung, wie ich gemerkt hatte. Sie beschränkte sich, jedenfalls mir gegenüber, auf ironische, kühle Bemerkungen, die wohl verletzen sollten, und auf sprechende Gesten.
    Ich mochte sie nicht. Sie nahm mich nicht ernst. Weder als Mensch noch als Liebhaber. Außerdem war sie nackt keine Augenweide,

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