Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Vorderhauses.
Der ihr bekannte Summton ertönte, und sie drückte die Tür auf.
Eigentlich war sie auf dem Weg zu ihrem Büro gewesen, doch einer inneren Stimme folgend, war sie abgebogen und in Richtung der elterlichen Wohnung gefahren.
›Frisch gebohnert‹ las sie auf der Plakette, die an der zweituntersten Stufe der Treppe festgeschraubt war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie sich damals als Erstklässlerin gefreut hatte, diese Schriftzeichen nun endlich selbständig entziffern zu können. Allerdings hatte sie nicht verstanden, wie die Treppe permanent frisch gebohnert sein konnte. Jetzt hörte sie wieder die Stimme ihres Vaters, der ihr erklärte, dass dies versicherungstechnische Gründe hätte. Und sie war zufrieden mit der Antwort gewesen, obwohl sie es seinerzeit immer noch nicht begriffen hatte.
Sie lächelte, als sie daran zurückdachte.
Die Stufen der alten Treppe knarzten wie früher. Jacqueline schätzte das Haus auf inzwischen mehr als hundert Jahre. In den Jahren um 1900 war die Bevölkerungszahl Berlins so rasant gewachsen, dass dies einen Bauboom ausgelöst hatte.
Jacqueline fühlte sich wieder wie das kleine Mädchen von vor dreißig Jahren, das nach der Schule oder nach dem Spielen nach Hause zurückkehrte.
Allerdings war sie früher jugendlich-dynamisch hochgerannt.
Nur noch um eine Kurve, dann würde sie eine halbe Treppe unterhalb der Wohnung sein.
Sie sehnte sich danach, ihre Mutter wiederzusehen.
Und da stand sie. Sie trug das gleiche Kleid, das sie auch zum Einkaufsbummel im Lafayette angezogen hatte.
»Ich wusste, dass du hier bist«, rief Jacqueline ihr entgegen und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal.
Ihre Mutter sagte keinen Ton und strahlte sie nur an.
Jacqueline glaubte, das neue Parfum zu riechen: Serious Alternate Afternoon . Es passte hervorragend zu ihrer Mutter.
Etwas lag in ihren Armen. Ein Kleiderbündel? Hatte sie gerade Wäsche waschen wollen?
Jacqueline erreichte den oberen Treppenabsatz. Überglücklich versuchte sie, ihre Mutter zu umarmen.
Aber diese wich zurück.
»Was ist los?«, fragte Jacqueline.
Ihr Blick fiel auf das vermeintliche Kleiderbündel. Es entpuppte sich als ein Tuch, das schützend um einen etwa fünfzig Zentimeter langen Gegenstand gewickelt war.
Jacqueline wollte einen Blick darauf erhaschen, wollte wissen, was ihre Mutter Geheimnisvolles in ihren Armen hielt.
Ihre Mutter versuchte es vor ihr zu verbergen, doch es schälte sich bereits ein Gesicht aus dem Tuch, das Gesicht eines Babys.
Zum Serious Alternate Afternoon gesellte sich ein eher unangenehmer Duft.
Jacqueline verstand nicht.
»Was ist das für ein Kind? Wem gehört es?«
»Ist mein Kind. Wer sind Sie?«
Das war nicht die Stimme ihrer Mutter. Jacqueline hatte sogar Mühe, die Sätze überhaupt zu verstehen, so stark war der Akzent.
Jacqueline wandte den Blick vom Baby ab und sah ihre Mutter an.
Vor ihren Augen verwandelten sich die Gesichtszüge. Die Lippen wurden dünner, die Augen schmaler, das Haar dunkler und glatter. Sogar die Körpergröße veränderte sich. Plötzlich musste Jacqueline zu der Frau hinabsehen, die eben noch ihre Mutter gewesen war.
Die Frau war eindeutig asiatischer Abstammung.
»Was machen Sie hier?«, wollte Jacqueline wissen.
»Was meinen?«, fragte die Asiatin verwirrt.
»Was Sie hier machen, in der Wohnung meiner Eltern?«
»Wohnung? Eltern? Nicht verstehen.«
Das Baby begann zu weinen.
»Sind Sie bei meiner Mutter zu Gast?«, fragte Jacqueline.
Da die Asiatin Jacqueline nur hilflos ansah, drängte sich Jacqueline einfach an ihr vorbei.
Bereits der Wohnungsflur erwies sich nicht als der, den sie kannte. Jacqueline riss sämtliche Türen auf, klapperte alle Zimmer ab. Keines glich den Räumen in ihrer Erinnerung. Sämtliche Möbel waren ausgetauscht, noch nicht einmal die Tapeten hatten überlebt. Ihr früheres Jugendzimmer erstrahlte in einem zarten Rosa. Durch das Fenster erhaschte sie den wohlvertrauten Blick auf den Viktoriapark, als die Stimme der Asiatin sie aus ihrer Suche riss.
»Ich Polizei rufen!«
Als ob jemand an der Kurbel einer alten Sirene gedreht hätte, wurde das Heulen des Babys immer lauter.
»Ja, ist ja gut, ich gehe ja schon.« Jacqueline resignierte. Sie fragte sich, ob sie sich erneut in der Etage geirrt hatte.
Ohne die Frau oder das Baby noch eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ sie die Wohnung. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und Jacqueline hörte, wie hastig der Sperrriegel
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