Vater, Mutter, Tod (German Edition)
sicher, dass es eine Frau war.«
»Eine Frau?«, wiederholte René ungläubig.
Manthey wandte sich ihm wieder zu: »Haben Sie einen Verdacht, um wen es sich dabei handeln könnte, Herr Adam?«
René überlegte angestrengt, schüttelte dann aber den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Gab es irgendeine Person in Ihrem Umfeld, die sich in den letzten Tagen auffällig verhalten hat?«
»Nein.«
Schultheiss kehrte zurück und reichte René das Glas Wasser.
René nickte dankbar und nahm einen Schluck.
»Haben Sie kürzlich neue Bekanntschaften geschlossen?«
»Mein Beruf bringt es mit sich, dass ich ständig neue Leute kennenlerne.«
»Kann es sein, dass Sie sich in einem Fall eine Feindin geschaffen haben?«
René überlegte.
»Nicht auszuschließen, aber ich wüsste nicht, wen.«
Der Krankenpfleger schob den Rollstuhl mit Ayse am Esstisch vorbei, als Ayse plötzlich aufschrie.
»Halt! Warten Sie!«
Der Krankenpfleger bremste ab.
»Ist Ihnen noch etwas eingefallen, Frau Ökmen?«
Manthey sah neugierig zu ihr hinüber, doch Ayse blickte zu René.
»Diese Frau, die Sie gestern mit nach Hause gebracht haben«, meinte Ayse.
»Wer war das?«, fragte Manthey.
René erwiderte: »Ach, eine alte Schulfreundin. Wir hatten uns mehr als zwanzig Jahre nicht gesehen. Ich habe sie zufällig auf der Straße getroffen.«
Ayses Stirn kräuselte sich.
»Sie war’s.«
»Nein«, widersprach René. »Das glaube ich nicht.«
»Doch, ich bin mir nun sicher. Sie war es, die vor der Tür gestanden hat.«
Während René immer noch den Kopf schüttelte, setzte Manthey wieder seinen Kugelschreiber auf den Schreibblock: »Wie ist der Name der Frau?«
5. Kapitel
Drei Tage vor der Katharsis
S ie ist tot.«
Die Frau starrte die Neonröhre über ihr an, als fürchte sie, sie könne geradewegs auf sie herabfallen.
Einem Mantra gleich wiederholte die Frau diese Worte.
»Sie ist tot. Sie ist tot.«
Die Frau lag in einem Bett. Die Neonröhre war ausgeschaltet, denn durchs Fenster strahlte die Nachmittagssonne ins Krankenzimmer.
Dann drehte die Frau den Kopf. Der behandelnde Arzt saß genau in Richtung der Sonne. Sie umstrahlte seinen Kopf wie ein Heiligenschein.
Die Frau blinzelte.
Die Buchstaben auf dem Namensschild am Revers des Arztes verschwammen vor ihren Augen. Doch sie wusste bereits, was dort zu lesen stand: Dr. Rakowski.
»Ja, sie ist tot«, bestätigte er.
Allmählich gewöhnte sich die Frau an das gleißende Licht.
Rakowskis Gesichtszüge schälten sich aus der alles überlagernden Helligkeit: Er lächelte die Frau freundlich an.
Auch sein schulterlanges, gelocktes, blondes Haar erinnerte die Frau mehr an einen Engel als an einen Arzt. Sein glattrasiertes, sanftmütiges Gesicht trug ebenfalls dazu bei. Sie schätzte Rakowski auf ein klein wenig jünger als sich selbst, auf Anfang oder Mitte dreißig.
»Erinnern Sie sich an unsere gestrige Sitzung?«, fragte Rakowski.
»Ja, ich glaube schon.«
»Wir haben bereits gestern von Ihrer Mutter gesprochen.«
»Ja?«
»Versuchen Sie, sich das Gespräch ins Gedächtnis zurückzurufen.«
»Ich habe Ihnen erzählt, dass ich mit meiner Mutter im Lafayette beim Shoppen war.«
»Genau.«
»Aber meine Mutter ist tot.«
»Gestern haben Sie das Gegenteil behauptet.«
Die Frau dachte angestrengt nach; sie versuchte, die Puzzlestücke in ihrem Kopf an die richtige Stelle zu rücken.
»Ich war mir so sicher, dass ich mit ihr beim Shoppen war. Ich habe immer noch den Duft des Parfüms in der Nase.«
»Sie waren allein im Lafayette. Sie haben sich das Parfüm dort selbst anbieten lassen und es dann gekauft.«
»Meine Mutter ist tot. Seit zwei Jahren. Das passt alles nicht zusammen.«
»Nein.«
»Kann man sich einbilden, einen Menschen zu sehen, der gar nicht da ist?«
Rakowski nickte.
»Ich habe mich sogar mit ihr unterhalten.«
»Auch das ist möglich.«
Für einen Moment herrschte Stille. Rakowski ließ der Frau Zeit, das Erlebte zu reflektieren.
Dann fuhr er fort: »Aber Sie waren bei ihrer Beerdigung!«
»Ja«, sprach die Frau zögerlich.
»Wie war das Wetter? Versuchen Sie, sich an den Tag zurückzuversetzen.«
Die Frau überlegte lange, ehe sie antwortete.
»Stark bewölkt. Ich hatte einen Schirm dabei. Die anderen auch.«
»Hat es angefangen zu regnen?«
Und wieder benötigte sie eine kurze Denkpause.
»Nein. Es blieb trocken. Erst als das Begräbnis vorbei war, begann es. Dann goss es wie aus Kübeln.«
»Wo liegt der Friedhof?«
»In Kreuzberg,
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