Vater, Mutter, Tod (German Edition)
fingerlanger Riss.
Das Pochen hinter ihren Schläfen intensivierte sich, im Magen spürte sie ein unangenehmes Gefühl. Sie sah sich nicht in der Lage, jetzt noch ins Büro zu fahren und ihrer Arbeit nachzugehen, also lenkte sie das Fahrzeug in Richtung Kleinmachnow.
Ayse hatte heute frei, sie würde das Haus für sich haben.
Einsamkeit und Ruhe waren genau das, was sie nun benötigte. Und heißer Tee.
In Kleinmachnow angekommen, bereitete sie sich als Erstes einen Rooibos-Tee zu.
Dann stellte sie einen der Klappstühle neben den Schaukelstuhl und darauf das Tablett mit Kanne, Tasse und Milchkännchen.
Während der Tee zog und sich sein Duft im Wintergarten verbreitete, nahm sie Platz. Sie wollte sich ihrer Schuhe entledigen und ihre Füße massieren. Als sie sich vorbeugte, fiel ihr Blick durch die Terrassentür.
Dort draußen stand die Fremde!
Dreist und unheimlich glotzte sie herein.
Sie beobachtete Jacqueline.
Ihr Haar wehte im Wind und wirkte auf Jacqueline wie ein rotes Tuch, von einem Torero geschwenkt.
Jacqueline sprang auf – und stieß gegen das Tablett.
Geistesgegenwärtig packte sie zu und verhinderte gerade noch, dass es mitsamt dem Geschirr zu Boden fiel.
Als sie wieder nach draußen sah, erkannte Jacqueline, dass die Unbekannte bereits den Gartenzaun erreicht hatte.
Sie eilte zur Tür, riss sie auf und rannte ins Freie.
Die Fremde kletterte über den Zaun und sprang auf den dahinter verlaufenden Trampelpfad. Jacqueline folgte ihr.
Auf der anderen Seite des Weges, der an den Rückfronten der Häuserzeile entlangführte, schloss sich ein Waldgrundstück an.
Die Unbekannte verschwand zwischen den Bäumen, Jacqueline hinterher.
Immer wieder erspähte Jacqueline zwischen Stämmen und Ästen das wehende rote Haar der Frau. Sie blieb ihr auf den Fersen.
Ihre teuren, feinen Schuhe erwiesen sich als völlig ungeeignet für eine Verfolgungsjagd durch den Wald. Das Unterholz zerkratzte sie. Zudem geriet Jacqueline mehrfach ins Stolpern, einmal fiel sie der Länge nach hin und schürfte sich den linken Arm auf. Sie stemmte sich wieder hoch und rannte weiter.
Immer dem roten Haar hinterher.
Der Mischwald nahm kein Ende. Jacqueline dachte, dass sie schon längst aus den Bäumen hätten herauskommen müssen, auf den Acker, der jenseits des Wäldchens bewirtschaftet wurde.
Kiefern und Birken, immer wieder Kiefern und Birken.
Viel mehr Bäume, als sie erwartet hatte.
Sie schnappte nach Luft. Ein Sprint war nicht der Zweck, für den sie sich das Businesskostüm und das edle Schuhwerk gekauft hatte. Sie konnte nicht mehr. Mit einer Hand stützte sie sich schließlich an einem Baumstamm ab und rang nach Atem.
Mit der anderen wischte sie sich Schweißtropfen von der Stirn.
Die Fremde schien mehr Kondition zu haben. Jacqueline blickte in die Richtung, in der sie sie zuletzt gesehen hatte: nichts, kein Lebenszeichen mehr von der Unbekannten.
In normalem Gehtempo schritt Jacqueline weiter. Sie erkannte schnell, dass es aussichtslos war, aufs Geratewohl weiterzusuchen. Die Frau konnte inzwischen überall sein.
Enttäuscht kontrollierte sie den Zustand ihrer Schuhe: reif für den Altkleidercontainer.
Doch neben ihrem rechten Fuß entdeckte sie etwas im Unterholz.
Weiß und rund.
Was war das?
Jacqueline griff danach. Es entpuppte sich als ein Papierknäuel. Sie faltete es auseinander und mit einem Schlag bekam sie heftige Kopfschmerzen.
Das Papier in der Größe DIN-A5 war offenbar aus einem Schulheft gerissen worden. Die Linien solche, wie sie Schreibanfänger verwendeten, um die richtigen Proportionen der Buchstaben zu lernen.
Es hatte auch tatsächlich jemand damit geübt. Die Schriftführung war alles andere als sicher und gerade. Ganz im Gegenteil. Zweifellos stammten die Buchstaben von jemandem, der sie noch nicht lange beherrschte.
Zwei Worte.
Nur zwei krakelige Worte.
Sie reichten aus, um Jacqueline erneut schaudern zu lassen.
Sie formte sie mit den Lippen, doch sie sprach die beiden Namen nicht aus, die nun vor ihren Augen verschwammen:
LUKAS
PAULA
Was hatte die Frau mit ihrem Jungen zu schaffen?
Wer war Paula?
Die Unbekannte selbst?
Ein weiteres Kind, dem die Frau nachstellte?
Erschöpft und ratlos drehte sie sich um und marschierte zum Haus zurück.
Ihr rechter Knöchel schmerzte, sie humpelte.
Am einen Arm hatte sie Schürfwunden, und an der Hüfte hatte ihr Kostüm einen zweiten Riss erlitten.
Zurück im Haus, schloss sie sorgfältig die Terrassentür hinter sich;
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