Vater, Mutter, Tod (German Edition)
vorgeschoben wurde.
Jacqueline sah auf das Namensschild.
Vor ihren Augen verwandelte sich das Wort › COLLIN ‹ in › NGUYEN ‹.
Sie geriet in Panik.
Raus!
Sie wollte nur noch raus.
Sie hastete die Treppen hinab und passierte die Haustür.
Erneut betrachtete sie die zwei Dutzend Klingelschilder. Auf dem mit dem Namen der Mieter im zweiten Stock Vorderhaus stand nun ebenfalls klar und deutlich › NGUYEN ‹.
Jacquelines Kopf schmerzte.
Sie schloss die Augen und massierte sich die Schläfen.
Eine Stimme erklang in ihr, eine männliche Stimme, selbstbewusst und fordernd.
»Wo liegt der Friedhof?«, wollte sie wissen.
»In Kreuzberg, glaube ich«, antwortete Jacqueline in Gedanken.
»In Kreuzberg«, bestätigte die Stimme und schob gleich eine weitere Frage hinterher: »Wo genau?«
Jacqueline öffnete wieder die Augen und hielt Ausschau nach ihrem Wagen.
Wenige Minuten später bog sie bereits auf den Mehringdamm ab. An dessen nördlichem Ende erreichte sie den Friedhof. Genau vor dem schmiedeeisernen Eingangstor wartete ein freier Parkplatz darauf, dass sie ihren Mercedes abstellte.
Obwohl die Temperaturen sommerlich heiß waren, griff sie nach der Jacke auf dem Rücksitz. Sie schlüpfte hinein, nachdem sie das Auto abgeschlossen und ihr auberginefarbenes Kostüm glattgestrichen hatte.
Ihr Weg führte sie direkt zur Kirchhofkapelle, deren Tore geschlossen waren. Sie lauschte. Orgelklänge schwollen langsam an und Jacqueline hörte Bewegung im Inneren. Sie trat einen Schritt zur Seite.
Ein Mann in einem schwarzen Anzug trat heraus und schob die Tore auf. Dann arretierte er sie, damit sie geöffnet blieben.
Gleich darauf schritt würdevoll ein Pfarrer ins Freie, in vollem Ornat.
Mit beiden Händen hielt er eine Bibel an seine Brust gepresst.
Jacqueline stand in hellem Sonnenschein, und doch fröstelte sie.
Hinter dem Geistlichen folgte ein schmuckloser Eichensarg. Jeweils zwei Männer an beiden Seiten trugen ihn ins Freie.
Danach zwei Trauergäste: ein Mann und eine gesichtslose Frau.
Den Mann erkannte Jacqueline sofort. Es war Patrick, ihr Bruder.
Gleichzeitig glaubte Jacqueline, nasses Laub zu riechen; ihr wurde zunehmend kälter.
Patrick war bereits vor Jahren nach Düsseldorf gezogen. Sie traf ihn nur zu ganz speziellen Anlässen; er war ihr zu einem Fremden geworden.
Hinter Patrick und der Gesichtslosen marschierte die Trauergemeinde: Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen, Freunde, Nachbarn.
Auf einmal verharrten alle mitten in ihrer Bewegung, als hätte jemand auf ›Pause‹ gedrückt. Der Trauerzug schien auf etwas zu warten. Jacqueline wusste, worauf. Zielstrebig ging sie nach vorne, zu ihrem Bruder. Sie trat in die gesichtslose Frau hinein und füllte ihre Umrisse exakt aus.
Die Trauernden setzten ihren Marsch fort, Jacqueline war nun ein Teil von ihnen.
Der Asphalt unter ihren Schuhen glänzte vor Feuchtigkeit. Doch trotz bedrohlich dunkler Wolken am Himmel fiel im Augenblick kein einziger Tropfen. Jacqueline bemerkte, dass sie einen geschlossenen Regenschirm in ihrer Hand trug.
Die Orgelmusik wurde leiser, bis sie schließlich vollends verklang.
Kurze Zeit später erreichte der Sarg seinen Bestimmungsort.
Leichter Wind wehte goldbraune Blätter an Jacqueline vorbei, während der Pfarrer würdevoll von Staub und Asche predigte. Danach bespritzte er den Sarg mit Weihwasser, und die Sargträger sorgten dafür, dass er in die Grube glitt.
Der Aushub füllte sich wie von selbst mit Erde, während die Menschen um Jacqueline herum verschwanden. Sie kehrten dorthin zurück, woher sie gekommen waren: in die Vergangenheit.
Von einem Augenblick zum anderen stand Jacqueline allein an der Grabstätte, auf der nun Stiefmütterchen wuchsen; Efeu rankte sich entlang der Grabränder.
Der Wind hatte sich gelegt, die herbstlichen Blätter hatten sich in nichts aufgelöst.
Die Sonne brannte Jacqueline ins Gesicht und ließ sie blinzeln.
Auf dem Grabstein, auf dem eben noch lediglich ein Name gestanden hatte, waren nun zwei eingraviert.
Alfred Collins Sterbedatum lag fünf Jahre zurück, das seiner Frau Roswitha zwei.
Jacqueline holte tief Luft, dann drehte sie sich um und kehrte verwirrt zu ihrem Wagen zurück, zuerst gemächlich, dann mit immer schnelleren Schritten.
Sie stolperte über einen am Boden liegenden Ast, rappelte sich aber gleich wieder auf.
Das Geräusch zerreißenden Stoffs noch in den Ohren, suchte und fand sie die Ursache dafür: Den Saum des Kostüms verunstaltete ein
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