Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Jacqueline.«
Die krakeligen Großbuchstaben entstammten zweifellos den ungeübten Fingern ihres Sohns.
»Jacqueline? Hörst du mich?«
Lukas hatte seinen Namen aufgeschrieben – und er kannte Paula.
»Bitte, Jacqueline, so antworte mir doch.«
Aber wenn Lukas Paula kannte …
»Ich werde einen Arzt rufen.«
Der Satz katapultierte Jacqueline in die Realität zurück.
»Nein!«, rief sie aus. Gleichzeitig drückte sie mit der immer noch in der Hand ihres Mannes liegenden Rechten kräftig zu. Der Stuhl kippte zwei Fingerbreit nach hinten, dann verlagerte Jacqueline ihr Gewicht und stoppte damit die Bewegung.
Renés Gesicht verzog sich vor Schmerz.
»Nein, heute nicht mehr«, sagte Jacqueline.
»Ich kenne einen …«, er machte eine kurze Pause, als suche er nach einer milden Formulierung, »… Nervenarzt. Ich habe ihn vor zwei Monaten vertreten und er ist mir noch einen Gefallen schuldig. Ich werde ihn anrufen und dafür sorgen, dass du sofort morgen früh einen Termin dort erhältst.«
»Nein«, Jacqueline presste erneut seine Hand.
»Ich möchte mir selbst einen Arzt suchen.«
René überlegte kurz.
»Also gut. Bist ja ein großes Mädchen.«
Er lächelte sie liebevoll an und führte seine Hand an ihre Wange.
Jacqueline entzog sich der Berührung.
»René?«
»Ja?«
»Kennst du eine Frau namens Paula?«
Den kurzen Moment der Erschrockenheit konnte René nicht verbergen.
Jacqueline las in seiner Mimik wie in einem Buch und wusste sofort, dass gleich eine Lüge über seine Lippen kommen würde.
»Nein«, sagte er.
8. Kapitel
Zwei Tage vor der Katharsis
W ie, sagten Sie, sind Sie auf mich aufmerksam geworden?«
Rakowski beugte sich nach vorn und lächelte sie freundlich an.
Die Frau erlebte selten einen anderen Gesichtsausdruck an ihm. Bis auf wenige Ausnahmen erschien er ihr gut gelaunt und vertrauenerweckend.
Sie glaubte nicht, dass er ihr Böses wollte.
Deswegen gab sie ihm bereitwillig Auskunft.
»Eine Bekannte. Eine Bekannte hat Ihren Namen erwähnt. Sie war bei Ihnen in Behandlung.«
»Wie heißt die Bekannte?«
Die Frau lehnte sich zurück in ihrem Bett, das so eingestellt war, dass sie aufrecht darin sitzen konnte. Sie überlegte kurz.
»Susanne Cantor. Sie hat mir Ihren Namen genannt und ich habe die Telefonnummer Ihrer Praxis übers Internet herausgefunden.«
»Bei mir war nie eine Frau Cantor in Behandlung.«
»Ach nein?«
Erneut versuchte die Frau, ihr Gedächtnis zu sortieren, während Rakowski etwas notierte.
Dann blickte er wieder auf und sagte noch einmal: »Bei mir war nie eine Frau Cantor in Behandlung.«
Die Frau sah, dass er eine Erwiderung erwartete. Doch musterte sie lieber sein schulterlanges Haar. Die Sonne schimmerte durch die blonden Locken. Wie gestern.
Oder war es vorgestern gewesen?
Oder vor einer Stunde?
Die Frau hatte ihr Zeitgefühl verloren.
Wann sie ihre Medikamente einzunehmen hatte, das wurde ihr gesagt.
Entweder von Dr. Rakowski oder von einer der Krankenschwestern, die sich rund um die Uhr so rührend um sie kümmerten.
Die Frau fühlte sich gut aufgehoben.
Wenn nur die regelmäßig wiederkehrenden Kopfschmerzen nicht wären, und die bohrenden Fragen von Rakowski.
Jetzt bewegten sich erneut seine Lippen, doch sie hörte nichts.
Sie wollte auch nichts hören. Denn in diesem Falle mutierte der Mann, der ihr im strahlenden Licht der Sonne wie ein Engel erschien, wieder zu jemandem, der sie quälte.
Sie vermutete eine Art Prüfung und lächelte ihn einfach an.
»Interessant«, sagte Rakowski nun und nickte dabei.
»Erzählen Sie mir noch einmal, wie Sie zu dem Ergebnis gekommen sind, dass Ihre Mutter wirklich tot ist«, fuhr er fort.
»Nun, ich bin zu ihrem Grab gefahren.«
Die Augen des Engels weiteten sich: »Sie sind was?«
»Ich bin zu ihrem Grab gefahren.«
Die Frau sah, dass Rakowski, einem ersten Impuls folgend, ihr widersprechen wollte, doch er schwieg.
Währenddessen wiederholte die Frau den Satz ein weiteres Mal, als wolle sie sich den Friedhofsbesuch selbst bestätigen: »Ja, ich bin zu ihrem Grab gefahren.«
»Wie konnten Sie von dem Grab wissen, wenn Sie der Meinung waren, dass Ihre Mutter noch am Leben ist?«
Da waren sie wieder, ihre Kopfschmerzen.
Warum nur peinigte sie der Engel so?
»Ich weiß es nicht mehr. Eine innere Eingebung?«
»Mittlerweile habe ich hier eine ganze Menge innerer Eingebungen notiert«, ließ sich Rakowski hinreißen. »Aber kommen wir noch einmal zu der Geschichte mit dem
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