Vater, Mutter, Tod (German Edition)
andererseits war er gerade vor ihren Augen zum Schutzengel mutiert.
Doch war es gerecht, dass der Teufel ihren Engel um mehr als einen Kopf überragte?
Dass er ein doppelt so breites Kreuz sein Eigen nannte?
Konnte dieser kleine, schmächtige Engel auch weiterhin seine schützende Hand über sie halten?
Sie presste ihren Rücken gegen die Zimmertür.
Auf dem Flur sprach erneut jemand.
»Wie lange müssen Sie denn noch hierbleiben?«
»Leider die ganze Nacht über, mein Kollege ist krank geworden.«
»Ich habe jetzt zum Glück zwei Tage frei.«
»Sie Glückliche. Schönen Abend!«
»Danke, ebenfalls. Trotz der Nachtschicht.«
Die dicke Krankenschwester verließ also das Gebäude.
Obwohl Jacqueline jegliches Zeitgefühl verloren hatte, vermutete sie, bereits mehrere Nächte im Krankenhaus verbracht zu haben.
Hätten nicht eigentlich nur ihre Kopfschmerzen behandelt werden sollen?
Warum löste Rakowski ständig solche verstörenden Irritationen in ihr aus?
Und wieso hatte dieser schwarzgekleidete Teufel das Recht, über ihren Aufenthaltsort zu entscheiden?
Ob René das alles wusste? Warum besuchte er sie nicht? Hielten sie ihn von ihr fern?
Oder steckte er gar mit Rakowski unter einer Decke?
Vergnügte er sich just in diesem Augenblick mit seiner Geliebten?
Wollte man sie für verrückt erklären?
Jacquelines Gedanken drehten sich im Kreis.
Sie erkannte, dass sie aus dem Kreis nur ausbrechen konnte, wenn sie René zur Rede stellen würde.
Viel zu lange hatte sie sich passiv verhalten und die Fragen Rakowskis ertragen. Sie musste endlich wieder die Initiative ergreifen.
Sie konnte nicht zulassen, dass man ihr das Leben stahl – und ihren Sohn!
Zwischen ihr und der Freiheit standen ein Krankenpfleger und ein Polizist.
Sie benötigte einen Plan.
Ihr Blick schweifte umher: ein Krankenbett, ein rollbarer Nachttisch, ein in die Wand eingelassener Kleiderschrank, eine schmale Tür, ein Fenster.
Obwohl sie durchs Fenster auf eine bewaldete Parkanlage blicken konnte, stellte eine Flucht über diesen Weg keine realistische Option dar. Direkt unterhalb führte ein geteerter Fußweg entlang. Ein Sprung aus dem zweiten Stock? Keine gute Idee.
Unschlüssig trat sie durch die schmale Tür in die Nasszelle. Eine Duschkabine ohne Vorhang stand dort zur Nutzung bereit, des Weiteren eine Toilettenschüssel. Über den Duschkopf hatte sie sich bereits mehrfach geärgert. Er wackelte und seine Dichtung war porös geworden. Es war Jacqueline bislang nicht gelungen, den Wasserstrahl ihren Vorlieben entsprechend einzustellen. Einmal hatte sie so lange daran geschraubt, bis sie den Metallkörper in den Fingern gehalten hatte.
Sie erinnerte sich daran, wie schwer er in ihrer Hand gelegen hatte. Er schien ihr äußerst massiv zu sein.
Wenn man ihn geschickt und im richtigen Winkel …
Sie stellte sich in die Kabine und drehte den Duschkopf, bis er sich aus seiner Halterung löste.
Stolz wog sie ihn in ihrer Handfläche.
Jetzt musste sie nur noch den Krankenpfleger anlocken.
Sie dachte nach.
Sie konnte einen Notfall simulieren.
Ein Notrufknopf zierte die Wand neben dem Bett; einen weiteren, hier in der Nasszelle, konnte man vom Sitzen aus erreichen, sollte die eigene Kraft nicht ausreichen, sich von der Toilettenschüssel hochzustemmen.
Sie drückte ihn.
Rasch ließ sie sich zu Boden sinken und rollte sich zusammen wie ein Fötus im Mutterleib. Den Duschkopf verbarg sie in ihrer Körpermitte.
Nach endlos langen Sekunden öffnete sich die Zimmertür. Die Schritte verharrten – vermutlich sah sich der Krankenpfleger um –, dann näherten sie sich der Nasszelle.
Jacqueline öffnete ihr linkes Auge einen schmalen Spalt.
Der Krankenpfleger beugte sich zu ihr hinab.
Er sagte etwas, sanft und fürsorglich, doch ehe er den Satz zu Ende sprechen konnte, knallte ihm Jacqueline ihre geballte Faust gegen den Unterkiefer. Ein knirschendes Geräusch ertönte und der Krankenpfleger verstummte.
Mit der anderen Hand holte Jacqueline aus und schlug dem überraschten Pfleger den Duschkopf an die Schläfe.
Ungläubig riss er die Augen auf und starrte sie an, dann sackte er in die Knie.
Drei weitere Male hieb Jacqueline in kurzer Folge auf seinen Schädel ein. Sie hoffte, dass der Polizist draußen die dumpfen Treffer nicht hören konnte.
Als der Pfleger endlich bewusstlos wurde und zur Seite wegkippte, stützte Jacqueline seinen Körper, damit der Aufprall auf den gefliesten Boden keinen Laut verursachte.
Dann lag
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