Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Box wieder an und trug sie hinein.
Dass er zu Hause sei, rief er, während er mit dem Fuß die Tür hinter sich zuschubste.
Keine Antwort abwartend, schleppte er die Box in die Küche. Auf dem Tisch lag eine Tafel Schokolade der Marke ›Schlager Süßtafel‹. Er stellte die Box daneben.
Ganz automatisch griff er nach der Schokolade, öffnete den Vorratsschrank und legte sie hinein, exakt auf einen Stapel von einem knappen Dutzend identischer Tafeln.
Er dachte daran, dass es mal wieder an der Zeit war, die Nachbarskinder zu versorgen.
Nachdem er sich im Flur die Schuhe ausgezogen hatte, ging er ins Wohnzimmer.
Seine Frau saß, eingewickelt in eine dünne Wolldecke, auf dem Sofa. In ihren Armen hielt sie eine altmodische Puppe mit einem Porzellankopf, die sie fest an sich drückte.
Ihre Augen starrten zum Fernseher.
Er sei zu Hause, wiederholte er leise.
Für einen Moment wandte sie sich ihm zu und lächelte ihn an, dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf dem Bildschirm.
Allein dieses kurze Lächeln Veras machte Martin Mantheys Leben lebenswert.
Um sie herum alles voller Puppen. Einer traurigen Königin gleich thronte sie dazwischen: kleine Puppen und große, alte Puppen und neue, Puppen aus Kunststoff, Puppen aus Porzellan.
In der Ecke des Fernsehbildschirms prangte das Logo des Kinderkanals.
Auf Manthey wirkte der gewollt kindlich agierende Moderator eher debil, doch Vera verfolgte seine Worte andächtig.
Manthey schritt zu ihr, beugte sich hinab und küsste sie auf die Stirn: Sie reagierte nicht. Er überließ sie wieder sich selbst.
Zurück in der Küche, räumte er die gekauften Lebensmittel in den Vorratsschrank. Wegen der Brisanz des aktuellen Falls hatte er das Büro später als üblich verlassen. Er beschloss daher, heute auf das Kochen zu verzichten. Er schnitt Brot auf, drapierte Wurst- und Käsescheiben auf Teller und stellte alles zusammen mit Gläsern und einer Karaffe Wasser auf ein Tablett.
Während er Besteck und Servietten dazulegte, erklang aus dem Wohnzimmer bereits die Erkennungsmelodie des Sandmännchens.
Das Tablett vor sich hertragend, erreichte er den Wohnzimmertisch. Er deckte ihn und versuchte, dabei seiner Frau nicht im Bild zu stehen.
Schließlich räumte er einen Sessel von Puppen frei und ließ sich hineinplumpsen.
Die Gutenachtgeschichte ging zu Ende, und der Sandmann erschien wieder auf dem Bildschirm.
»Kinder, liebe Kinder, es hat mir Spaß gemacht!
Nun schnell ins Bett und schlaft recht schön,
dann will auch ich zur Ruhe geh’n.
Ich wünsch euch gute Nacht.«
Mit den letzten Takten der Musik kam Bewegung in seine Frau. Sie bettete die Puppe, die sie eben noch zärtlich in Händen gehalten hatte, neben sich auf ein Sofakissen. Danach befreite sie sich von ihrer Wolldecke und legte sie behutsam über die Puppe. Nur der Porzellankopf guckte unter der Decke hervor, die beweglichen Augenlider hatten sich geschlossen.
Als sie sich dem Tisch zuwandte, lag dort bereits ein mit Käse belegtes Brot auf ihrem Teller.
Wieder lächelte sie ihren Mann kurz an und griff danach.
Manthey fühlte sich glücklich.
Er langte nach der Fernbedienung des Fernsehers und schaltete den Ton ab.
Schweigend aßen die beiden zu Abend.
Nachdem Manthey fünf Brote verdrückt hatte, kaute seine Frau immer noch an ihrem ersten.
Er lehnte sich zurück und betrachtete sie dabei.
Nach zwei Scheiben fühlte sie sich satt, wie immer.
An guten Tagen kümmerte sie sich um den Abwasch, meistens blieb die Arbeit an Manthey hängen.
Doch dafür war noch genügend Zeit.
Erst wollte er ihr von seinem Arbeitstag berichten.
Ihm war nicht klar, ob sie hörte, was er erzählte, geschweige denn, ob sie es begriff.
Dennoch war es ihm ein Bedürfnis. Sie sollte teilhaben an der Welt dort draußen.
Er erzählte ihr von den beiden Jungen, von dem toten und von dem entführten.
Auch die Verzweiflung der Mutter des Entführten verschwieg er nicht. Als er von den Auswirkungen auf die Mutter des toten Jungen berichtete, ging ein Zucken durch den Körper seiner Frau.
Da wurde ihm bewusst, dass sie sehr wohl verstand, was er zu ihr sagte.
Er schloss seine Erzählung mit dem Satz, den er in all den Jahren so oft schon zu ihr gesagt hatte.
»Die Lebenden sind wichtiger als die Toten.«
15. Kapitel
Ein Tag vor der Katharsis;
abends
J acqueline erreichte das Einfamilienhaus in Kleinmachnow bei Anbruch der Dämmerung.
In der Ferne hörte sie Grillen zirpen und einen Specht,
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