Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Jacqueline laut vor.
»Sie können also gar nicht teilgenommen haben!«
Jacqueline verstand nicht, was er meinte.
»Die Veranstaltung findet erst übernächstes Wochenende statt«, behauptete Rakowski.
Einfach nicht antworten, wandte Jacqueline wieder ihre bewährte Strategie an.
»Wie erklären Sie sich das?«
Schweigen.
»Hallo? Ich rede mit Ihnen.«
Jacqueline empfand Rakowski von Sitzung zu Sitzung penetranter. Seit einiger Zeit wirkte er so, als stände er selbst unter Druck. Seine freundliche Ausstrahlung verwandelte sich immer mehr zu einer Karikatur ihrer selbst.
Jetzt fasste er sie sogar an!
Er zupfte sanft am Ärmel ihres Pyjamas und wiederholte seine Frage.
»Wie erklären Sie sich das?«
Jacqueline erschrak über den Körperkontakt und zuckte zusammen.
»Keine Ahnung«, antwortete sie rasch. »Möglicherweise verwechsle ich da etwas.«
Sie griff nach dem Oberbett und zog es bis zum Hals nach oben. Am liebsten hätte sie auch ihr Gesicht darunter versteckt.
»Wahrscheinlich verwechsle ich die Veranstaltung mit einer anderen, die ich kürzlich besucht habe.«
»Jacqueline, öffnen Sie bitte die Broschüre.«
Langsam holte sie ihre Hände wieder unter der Bettdecke hervor. Sie klappte das Infoheft, das sie immer noch in ihren Fingern hielt, auseinander.
»Sehen Sie sich die Programmpunkte an.«
»Vormittags: ›Städtischer Raum: Wohnen und Arbeiten – Synergien und Reibungspunkte‹. Nachmittags: ›Vision versus Budget‹.«
»Sie haben mir exakt von diesem Symposium berichtet. Einem Symposium, das noch gar nicht stattgefunden hat.«
»Aber ich war dort.«
»Nein.«
Rakowskis Tonfall klang scharf wie ein Skalpell. Es schnitt direkt in Jacquelines Nervenzentrum: Die Kopfschmerzen meldeten sich zurück. Sie massierte sich die Schläfen.
»Sie haben schon mehr Medikamente erhalten, als ich eigentlich gutheißen kann.«
Er schien bereits geahnt zu haben, dass sie ihn um eine weitere Tablette bitten wollte.
»Ich habe an diesen Vorträgen teilgenommen«, sagte sie nun trotzig und unter hämmernden Kopfschmerzen.
»Auch wenn Sie mir nun die siebte Version der Geschichte erzählt haben, sie wird dadurch nicht wahrer.«
»Die siebte Version?«
»Mindestens. Wir sind in den vergangenen Tagen alles mehrfach durchgegangen. Erinnern Sie sich?«
»Wie lange bin ich schon hier?«
»Lenken Sie nicht ab!«
Was war nur aus dem hübschen, braven Engel geworden?
Vielleicht, wenn sie ihn einfach anlächelte, ja, vielleicht würde er dann wieder fröhlicher und freundlicher werden …
Doch dieses Mal funktionierte die Taktik nicht.
Rakowski redete hartnäckig weiter.
»Und die Story wird von Version zu Version umfangreicher und detaillierter. Jetzt haben Sie auch noch diese Susanne Cantor darin eingebaut. Die Frau, die Ihnen angeblich meinen Namen genannt hat. Aber Sie sind nicht bei mir in Behandlung, weil Sie meine Telefonnummer im Internet recherchiert haben.«
»Aber Susanne Cantor …«
»Es gibt keine Susanne Cantor«, unterbrach Rakowski barsch. »Es gibt keinen Beat Lindinger. Und es gibt keine Carla Martinez. Ich habe keine Ahnung, ob Sie die Namen erfunden oder irgendwo aufgeschnappt haben. Möglicherweise haben Sie tatsächlich irgendwann von ihnen gelesen, genauso wie vom Bau der Allianz-Arena oder der Brücke über die Süderelbe.«
Jacqueline wollte einfach nur, dass er aufhörte zu sprechen. Doch den Gefallen tat er ihr nicht.
»In der allerersten Version Ihrer Geschichte ist keiner der drei Namen gefallen. Je länger Sie hier sind, desto mehr schmücken Sie Ihre vermeintliche Erinnerung aus.«
Nein, sie hatte den Besuch des Symposiums von Anfang an identisch geschildert.
Sie verstand nicht, warum Rakowski das Gegenteil behauptete, und beschloss, dass es sinnvoller war, weiter zu schweigen, um ihn nicht noch mehr zu reizen.
Wenn nur diese elenden Kopfschmerzen vorbeigehen würden. War sie nicht auch deswegen hier in Behandlung, damit sich Rakowski darum kümmerte?
»Dann tauchen wieder Fragmente auf, die der Wahrheit entsprechen. Als Sie aufgegriffen wurden, befand sich tatsächlich ein Mahnschreiben der GEZ in Ihrer Handtasche. Oder die Wunde an Ihrer Hüfte. Sie ist ja auch schwer zu übersehen.«
Jacqueline griff erneut unter das Oberbett. Mit den Fingern tastete sie nach der langsam verheilenden Schnittverletzung.
»Was Sie über die Ursache erzählen, stimmt nicht. Es kann nicht stimmen.«
»Ich hatte für meinen Sohn Brot aufgeschnitten«, flüsterte
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