Vater, Mutter, Tod (German Edition)
ihre Ankunft in der Klinik erinnern.
Die verglaste Wand identifizierte sie sehr schnell als zum Stationszimmer gehörend. Der Glaskasten stand am Knotenpunkt mehrerer Gänge. Nervös sah sie sich um.
Das Glück blieb ihr hold: Die abzweigenden Flure schienen genauso verwaist wie das Stationszimmer.
Jacqueline lief schnell hin, betrat es und drehte sich um die eigene Achse.
Hier bestand kein Sichtschutz für das Klinikpersonal. Wo zogen sich die Leute um?
»Nur für Angehörige der KBON «, stand in schwarzen, leicht verblassten Lettern auf einer der Türen in ihrer Umgebung.
Sie drückte die Klinke.
An jeder Seite des schmalen Raums befanden sich fünf graue Spinde. Neun Stück mit Vorhängeschlössern gesichert, an einem baumelte ein aufgeklapptes Schloss. Jacqueline zog den Bügel aus der Öse und öffnete die Spindtür.
Auf dem Boden standen ein Paar dunkelblaue Puma-Turnschuhe, in einem Fach lag ein weinrotes T-Shirt. Über einem Kleiderbügel hing eine Jeans.
Der Körperbau des Krankenpflegers glich dem ihren. Falls das T-Shirt ein wenig weiter geschnitten war, konnte es funktionieren.
Sie schlüpfte aus ihrem Pyjama und streifte sich die Jeans über. Sie passte, als ob es ihre eigene wäre. Danach nahm sie das T-Shirt und betrachtete es: ein Urlaubsmitbringsel, vorne als Aufdruck das Wort ›Budapest‹. Sie zog es an. Im Brustbereich spannte es unangenehm.
Am meisten Sorge bereiteten ihr die Schuhe. Für ihre zierlichen Füße viel zu groß. Alle Zehen hatten Spiel. Aber schließlich wollte sie ja nicht zum Berlin-Marathon damit.
Die Pistole steckte sie sich hinten in den Hosenbund.
Sie hielt vergeblich Ausschau nach einem Spiegel, in dem sie ihr Aussehen kontrollieren konnte. Zurück ins Krankenzimmer wollte sie nicht.
Neben dem Stationszimmer führte eine Tür ins Treppenhaus. Jacqueline lauschte. Die Luft schien rein, und sie schlich nach unten.
Grüne Exit-Schilder wiesen ihr den Weg zum Ausgang.
Von einem Moment zum anderen stand sie in der prallen Sonne. Sie blinzelte und versuchte sich zu orientieren.
Ein doppelt mannshoher Zaun in ihrem Blickfeld; obenauf verhinderte ein Stacheldraht, dass ihn jemand überkletterte. Es erinnerte Jacqueline an die Einfassung einer Kaserne.
Sie erschrak.
Sollte die ganze Aktion umsonst gewesen sein?
War sie aus der Klinik ausgebrochen, nur um sich auf einem abgeriegelten Gelände wiederzufinden?
Die Aussicht vom Fenster des Krankenzimmers hatte sich lediglich über bewaldeten Park erstreckt, ohne jegliche Abgrenzung.
Sie blickte am Zaun entlang und entdeckte erleichtert, dass sie sich außerhalb des abgesicherten Bereichs aufhielt.
»… die Frau sofort nach nebenan ins Krankenhaus des Maßregelvollzugs einzuweisen …«, hallte plötzlich die Stimme des schwarzen Teufels durch ihren Kopf.
Sie wollte losrennen, doch sie besann sich.
Sie durfte keine Aufmerksamkeit erregen. Überwachungstürme hatte sie zwar keine gesehen, aber sicher patrouillierte Wachpersonal auf dem Nachbargelände.
Als wäre sie eine Besucherin, schlenderte sie nun einfach den Weg entlang. Nach einem Knick führte er beinahe zweihundert Meter lang am Zaun des Gefängniskrankenhauses vorbei.
Dem herrschaftlich anmutenden Verwaltungsgebäude, einem mit Kletterpflanzen überwucherten Backsteinbau aus dem 19. Jahrhundert, schlossen sich wieder Laub- und Nadelbäume an. Sie erinnerten Jacqueline an den Ausblick von ihrem Fenster.
Sie passierte einen Parkplatz; die schmale Straße, die zu ihm führte, würde sie sicher zum Ausgang des Geländes bringen. Mittlerweile hörte Jacqueline Verkehrslärm.
Tatsächlich endete die Straße an einer Schranke, neben der ein Pförtnerhäuschen stand.
Jacqueline erkannte schnell, dass es leer war. Ein Zettel klebte an der Fensterscheibe: ›Pforte nicht besetzt‹.
Den Einsparungen im Gesundheitswesen sei Dank.
In der Ferne entdeckte sie bereits die vertrauten Farben und Formen eines U-Bahn-Zugangs.
Sie verließ das Klinikgelände und überquerte eine vierspurige Straße.
Während sie die Treppen zu den Gleisen hinunterschritt, spürte sie, wie die Anspannung ihren Körper verließ.
Vor ihr prangte in weißer Schrift auf blauem Grund der Name des U-Bahnhofs: Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik.
14. Kapitel
Ein Tag vor der Katharsis;
abends
M anthey stellte die rote Plastik-Klappbox mit seinen Einkäufen auf die zweite Stufe der Treppe. Er kramte den Wohnungsschlüssel aus seiner Hose hervor und öffnete die Tür. Kraftvoll hob er die
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