Vater, Mutter, Tod (German Edition)
René sie aus ihren Gedanken.
»Ja, sicher, ich freue mich für deine Frau.« Sie hoffte, dass der Satz ehrlich geklungen hatte.
Doch Paula schien viel zu aufgeregt zu sein, um darauf zu achten.
»Und weißt du was, René?«
Sie machte eine dramaturgische Pause, dann fischte sie eine Broschüre aus ihrer Aktenmappe. Als zeige ein Schiedsrichter einem Spieler die rote Karte, streckte sie sie nach oben.
»Herr Vogt hat mir seinen Platz bei dem Stadtentwicklungs-Symposium überlassen.«
Es sollte in einem Grand Hotel am Großen Wannsee stattfinden, wie Jacqueline auf der Titelseite las. Und Renés ungläubigem Blick entnahm sie, dass dies etwas ganz Besonderes darstellte.
»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Paula, der gar nicht mehr gewahr zu sein schien, dass eine ihr fremde Frau anwesend war.
Sie wartete Renés Antwort nicht ab.
»Ich vermute, Herr Vogt wird sich über kurz oder lang aus dem Büro zurückziehen. Alt genug ist er ja. Meine Chancen, mit Simon das Büro weiterzuführen, sind mit dem heutigen Tag deutlich gewachsen.«
René wirkte glücklich. Er umarmte Paula und küsste sie.
Und Jacqueline stellte fest, dass sie Paula zu hassen begann.
29. Kapitel
Sechs Tage vor der Katharsis;
morgens
J acqueline wehrte sich dagegen, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Paula zurück.
Paula besaß all das, was sie selbst angestrebt hatte.
Was war aus den vielen Zukunftsvisionen geworden, die sie als Kind und als junge Erwachsene gehabt hatte?
Die Träume?
Verpufft.
Die Chancen?
Verspielt.
Während die Sonne unter- und wieder aufgegangen war, hatte sie sich nicht mehr von der Stelle bewegt.
Ihre Tränen waren längst versiegt.
Thorsten gab ihr Halt mit seinen Armen, die ihren kraftlosen Körper umschlangen.
Auch er hatte sich seit Stunden nicht mehr gerührt.
Der Mann, den sie verabscheute, spendete ihr Nähe und Trost.
Sie hasste ihn dafür – und sich selbst.
Sie hatte seinerzeit das Los mit der Aufschrift ›Hauptgewinn‹ gezogen; sie hatte es zerknüllt und in die Gosse gekickt. Stattdessen hatte sie sich für eine der vielen Nieten entschieden.
Wie ein Häufchen Elend lag sie bei ihm und sehnte sich fort von ihm.
Sie hatte nicht genügend Kraft, um sich von ihm zu lösen.
Die ganzen Jahre über hatte sie nicht genügend Kraft gefunden.
Sie stierte auf einen Punkt auf der Strukturtapete an der Wand vor ihr.
Fixierte sie ihn bereits seit Stunden?
Sie wusste es nicht.
Wieder schlich sich Paula in ihren Kopf. Diesmal ließ Jacqueline sie widerstandslos hinein.
»Das ist Paula«, hörte sie Renés Stimme.
»Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, krächzte die rothaarige Hexe.
Jacqueline wunderte sich, dass sie den Pickel auf Paulas krummer Nase nicht schon früher entdeckt hatte. Die lederne Aktenmappe unter Paulas Arm verwandelte sich in eine schwarze Katze, die Paula auf den Buckel kletterte. Die Katze fauchte Jacqueline böse an.
Während sich Paula den Hängeschränken in der Küche zuwandte, warf René Jacqueline einen Kussmund zu. Anscheinend traute er sich nicht, die Worte im Beisein der Hexe auszusprechen. So formulierte er sie lediglich mit den Lippen: »René aime Jacqueline. Jacqueline aime René.«
Ehe Jacqueline darauf reagieren konnte, kehrte Paula zurück.
In ihren warzenübersäten Händen balancierte sie drei Champagnerschalen, aus denen grauer Dampf aufstieg.
Als stünde sie unter Hypnose, griff Jacqueline zu, René ebenfalls.
»Santé!«, erklang Paulas kratzende Stimme.
»Santé!«, wiederholten Jacqueline und René wie aus einem Munde.
Jacqueline schluckte, die Flüssigkeit brannte auf ihrer Zunge, dann rann sie ätzend ihre Speiseröhre hinab.
Jacqueline rang nach Atem.
Sie zitterte, am ganzen Körper. Und sie fror.
Vor ihr verschwammen René, der sich stöhnend krümmte, und die kichernde Hexe. Sie verloren sich in Jacquelines Wahrnehmung und verwandelten sich zu einem alles beherrschenden Weiß.
Dann schälten sich Strukturen heraus: Jacqueline starrte immer noch auf die Tapete.
Der Mann, der sie hielt, streichelte mit seinen kräftigen Händen über ihre Oberarme. Sie ekelte sich vor seinen Berührungen. Sie stellte sich vor, es wären Renés Finger, die an ihrer Haut entlangglitten.
Vielleicht konnte René mit ihrer Hilfe den Klauen der Hexe entrinnen?
Sie wand sich in Thorstens Armen.
Da entdeckte sie, dass vor ihr ein toter Junge auf dem Boden lag; auf der Höhe des Halses vertrocknetes Blut auf dem Teppich.
Sie kannte den
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