Vater, Mutter, Tod (German Edition)
Jungen nicht.
Lukas, dachte sie.
Er war ebenso Gefangener der Hexe wie ihr René.
Sie musste die beiden befreien, sie aus dem Bann der Hexe lösen.
René gehörte zu ihr und sie musste ihm helfen, damit er seine Bestimmung erkannte.
Aber zunächst musste sie sich um ihren Sohn kümmern.
Erst Lukas, dann René.
Endlich würden sie eine glückliche Familie sein.
Sie schälte sich aus Thorstens Umarmung und erhob sich.
Wie in Trance ging sie ins Badezimmer. Vor dem Spiegel beseitigte sie die Spuren, die Trauer und Verzweiflung in ihrem Gesicht hinterlassen hatten; ihre Augenringe überschminkte sie.
Nachdem sie das Bad verlassen hatte, kehrte sie ein letztes Mal zu dem toten Jungen zurück.
Thorstens Blick traf den ihren.
»Wir müssen die Leiche beseitigen«, flüsterte Thorsten.
Jacqueline nickte.
»Die Polizei. Wir könnten Probleme bekommen«, hörte sie die ferne Stimme ihres Ehemanns.
Dass ihr Mann damit begann, den toten Jungen in den Teppich einzuwickeln, nahm sie nur noch am Rande wahr.
Ein letztes Mal dachte sie an Robin, dann vergaß sie ihn und verließ die Wohnung.
30. Kapitel
Sieben Tage vor der Katharsis;
spätnachmittags
K aum hatte sich die Haustür geschlossen, da hörte Jacqueline auch schon die schnell trippelnden Schritte eines Kindes.
Der Junge blieb im Türrahmen stehen, seinen Schulranzen auf dem Rücken.
Mit neugierigen Blicken musterte er die ihm unbekannte Frau. Er trug ein beigefarbenes Hemd und eine schwarze Baumwollhose, sein braunes Haar saß sauber gescheitelt.
Unwillkürlich verglich Jacqueline den Jungen mit ihrem Robin. Statur und Größe der beiden glichen sich sehr. Auch die Haarfarbe. Robins Frisur dagegen war meist verwuschelt. Das gefiel Jacqueline besser.
»Das ist Lukas«, sagte René.
»Sag schön ›Guten Tag‹«, ergänzte Paula.
Lukas näherte sich Jacqueline und streckte seine Hand aus.
»Hallo, Lukas. Ich bin eine Freundin deines Vaters.«
Sie strich ihm mit der Hand durchs Haar, was Lukas mit einem missbilligenden Blick quittierte.
»Oh, das mag er nicht.«
René lachte laut auf.
»Das gibt sich wieder. Ich habe ihm gestern einen Kamm geschenkt. Jetzt ist er pausenlos damit beschäftigt, sich die Haare zu striegeln.«
Bevor Jacqueline etwas darauf sagen konnte, erschien eine türkisch aussehende Frau im Türrahmen.
»Guten Tag«, begrüßte sie die Anwesenden.
»Das ist Ayse«, stellte René vor, nur um sich sofort zu korrigieren: »Ich meine, Frau Ökmen. Sie bringt Lukas morgens zur Schule und holt ihn abends wieder ab, falls wir es nicht selbst schaffen. Außerdem hilft sie uns im Haushalt.«
Jacqueline nickte ihr zu.
»Trinken Sie ein Gläschen mit uns?«, fragte Paula.
»Ich muss leider los«, lehnte Ayse ab. »Aber was gibt es denn zu feiern?«
»Raten Sie mal!«
»Das ›Le Mirage‹?«
Paula lächelte nur.
»Ich freue mich sehr für Sie, Frau Adam.«
Ayses Reaktion klang ehrlich, sie schüttelte Paula herzlich die Hand.
»Danke. Na, doch ein Gläschen Champagner?«
»Bitte seien Sie mir nicht böse, aber ich muss ja heute zu meinem Vater ins Krankenhaus – und dafür muss ich noch Auto fahren.«
Überrascht nahm Jacqueline zur Kenntnis, dass Ayse akzentfreies Deutsch sprach.
»Schade, ich hätte gerne auch mit Ihnen angestoßen.«
»Vielleicht ein andermal, Frau Adam.«
Lukas hatte sich inzwischen seines Ranzens entledigt und war auf einen der Küchenstühle geklettert. Vor sich breitete er verschiedene Schulutensilien aus.
»Tschüs, Lukas.«
Als er Ayses Worte hörte, sprang der Junge vom Stuhl und eilte auf sie zu. Die beiden drückten sich innig zum Abschied.
Jacqueline wunderte sich über die Vertraulichkeit.
»Gute Besserung für Ihren Vater«, meinte Paula und René schloss sich an.
»Danke. Auf Wiedersehen, alle zusammen.«
Nachdem Ayse verschwunden war, wetzte Lukas zum Tisch zurück.
»Lukas, wofür hast du denn einen Schreibtisch in deinem Zimmer? Wir wollen hier gleich zu Abend essen.«
»Aber ich muss dir doch was zeigen, Mama.«
Fasziniert beobachtete Jacqueline, wie Lukas krakelige Buchstaben auf ein Blatt Papier kritzelte. Das ging schon deutlich sicherer als bei ihrem Robin. Paula füllte eine weitere Champagnerschale mit Orangensaft und stellte sie vor Lukas.
»Oh«, sagte sie, als sie das Ergebnis von Lukas’ Bemühungen betrachtete.
Jacqueline näherte sich und erkannte nun auch, was der Junge geschrieben hatte.
Voller Stolz präsentierte Lukas seine Leistung.
»Jetzt habe ich
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