Vater unser
Die Promenade war überfüllt mit Joggern, Rollerbladern, Skateboardern, Kinderwagen und sonnenverbrannten Touristen. Die Einheimischen mussten am nächsten Tag wieder zur Arbeit und bewegten sich daher routiniert und zielstrebig, um noch vor Sonnenuntergang all ihre Vorhaben in die Tat umsetzen zu können. Für die Touristen war dieser späte Sonntagnachmittag bedeutend entspannter. Sie bummelten von Geschäft zu Geschäft und Restaurant zu Restaurant und blieben zwischendurch stehen, um ein Foto zu schießen oder die Aussicht zu genießen. Ein Stück die Promenade hinunter, hinter den vielen Restaurants und Hot-Dog-Verkäufern, spielte eine Reggaeband, während die Sonnenanbeter um sie herum scharenweise ihre Decken und Sonnenschirme zusammenpackten, um noch rechtzeitig zur Happy Hour bei O’Malley’s zu sein. Das bunte Treiben war genau das Richtige, um abzuschalten und all die Namen, Gesichter und Fakten wenigstens für kurze Zeit zu vergessen. Julia setzte sich auf eine leere Bank vor dem Hollywood Beach Resort, einem riesigen Hotel aus den 1920er Jahren, das seine besten Zeiten bereits hinter sich hatte. Julia liebte diesen Ort. Man merkte ihm an, dass er einmal etwas ganz Besonderes gewesen war. Wenn man die Promenade entlangschlenderte, war es, als könne man die Geister von Al Capone, Rita Hayworth oder Jimmy Cagey sehen, die am Strand spazieren gingen. Nichts hatte sich verändert. Noch nicht. Doch Hollywood war – genau wie Miami Beach zwanzig Jahre zuvor – gerade dabei, sich selbst neu zu erfinden, und Bulldozer und Architekten gaben sich auf dem Ocean Drive und der Johnson Street die Klinke in die Hand. Doch bis die geschichtsträchtigen Gebäude und Plätze neuen, glitzernden Fassaden Platz machen mussten, blieb die Strandpromenade Julias Lieblingsplatz, an dem sie joggen oder zumindest ausgiebig spazieren gehen konnte, um den Kopf frei zu bekommen. In der anonymen Menge und neben den brechenden Wellen des Meeres fühlte sie sich genauso klein und unbedeutend wie die unzähligen Sandkörnchen am Strand. Obwohl das Auto nur drei Blocks entfernt stand, hechelte Moose bereits nach diesem kurzen Spaziergang. In den letzten Wochen hatte er nicht viel Auslauf bekommen und einige Pfunde zugelegt. Auch die langen Spaziergänge mit Onkel Jimmy, die dieser meist als Vorwand benutzte, um nach hübschen Frauen in Bikini Ausschau zu halten, waren schon länger her. Seit Weihnachten hatte Julia mit ihrer Tante und ihrem Onkel nicht mal mehr telefoniert. Sie schloss die Augen. Sie war heute Nachmittag hierhergekommen, um nicht nachzudenken. Aber die Geister verfolgten einen überallhin. Manchmal musst du Entscheidungen treffen, die den Leuten nicht gefallen, Bella», hatte Onkel Jimmy sie einst gewarnt, als sie auf der Highschool für den Posten des Schülersprechers angetreten war. Manchmal hassen dich die Leute für bestimmte Entscheidungen, die du triffst. Sie machen es zu etwas Persönlichem, und das ist unfair. Auf solche Leute kannst du in deinem Leben verzichten. Denk immer daran.» Seine fast prophetischen Worte spukten ihr nun im Kopf herum. Julia wollte sich nicht zwischen ihrem Onkel und ihrer Tante und Andy entscheiden müssen, doch offenbar hatte sie das bereits getan. Sie wollte diese Entscheidung nicht zu etwas Persönlichem machen, aber anders ging es einfach nicht. Kaum zu glauben, dass sie sich bereits seit so langer Zeit weder gesehen noch gesprochen hatten; früher hatte sie mit Tante Nora beinahe jeden Tag telefoniert. Doch während die Tage und Wochen verstrichen, wurde die Mauer zwischen ihnen immer höher, und Julia fragte sich, ob sie sie jemals würde überwinden können. Die Sonne strahlte golden hinter bauschigen Wolken hervor und tauchte die Umgebung in ein eigenartiges, beinahe unirdisches Licht – wie in einem Gemälde aus der Renaissance. Selbst für das in dieser Hinsicht verwöhnte Florida hatte dieser Sonnenuntergang etwas Magisches. Die Luft war erfüllt von Leben, von Menschen und Musik. Welch ein Unterschied zum vergangenen Tag, an dem sie mit Andy aus dreckigen, vergitterten Fenstern beobachtet hatte, wie die fahle Wintersonne hinter der Skyline Manhattans versank. Julia fragte sich, ob sich ihr Bruder überhaupt an einen anderen Sonnenuntergang erinnern konnte. Vielleicht, dachte sie, würde sie ihm eines Tages den Sonnenuntergang in Florida zeigen können. Moose begann plötzlich wie wild zu bellen.
« Ich dachte mir doch, dass ich dich hier finde», sagte eine vertraute
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