Vater unser
geschmiegt. An seinen schnaufenden Atemzügen hörte sie, dass er kurz davor war, einzuschlafen. Ein stürmischer Wind fuhr durch die Palmen auf der Terrasse, die wild tanzende Schatten an die Decke des Schlafzimmers warfen. Sie hatte es gesagt. Eine Nacht bevor sie im wichtigsten Fall ihrer Karriere die Geschworenen aussuchte, hatte sie endlich ausgesprochen, was ihr nicht mehr aus dem Kopf ging, seit David Marquette Monate zuvor auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert hatte. Und ganz besonders, seitdem Andy wieder in ihr Leben getreten war. Ihr Bruder war kein Monster, sondern kämpfte mit Dämonen, die nicht einfach durch Medikation oder Gruppentherapie verschwanden. Sie hatte aus erster Hand miterlebt, welche Auswirkung und wie viele verschiedene Formen diese heimtückische Krankheit haben konnte. Der gleiche Körper, aber zwei vollkommen unterschiedliche Menschen. Die gleiche Handlung, aber zwei vollkommen unterschiedliche Geschichten. Vier verschiedene forensische Psychiater hatten zwei unterschiedliche, miteinander nicht vereinbare Diagnosen für ein und denselben Mann gestellt. Jetzt würde es bald an zwölf Geschworenen liegen – von denen sicherlich niemand einen Abschluss in Medizin, Psychologie oder sozialer Arbeit besaß –, das Urteil zu fällen: War Dr. David Marquette ein brillantes Monster oder ein paranoider Schizophrener? Ein brutaler Mörder oder ein selbstloser Retter? Dr. Jekyll oder Mr. Hyde? Diese zwölf Menschen würden nach Hilfe suchen, um die richtige Entscheidung zu fällen. Vor allem würden sie von der Staatsanwaltschaft einen Beweis dafür verlangen, dass David Marquette der kalte und berechnende Mörder ist, ein Mensch, der nicht in die Klinik gehörte, sondern in die Todeszelle. Julia Valenciano für die Bürger des Staates Florida ... Selbst wenn ihr Verhandlungspartner die widersprechenden Meinungen anderer Psychiater in Misskredit brachte, würden die Geschworenen weiterhin auf sie schauen. Sie würden sich auf ihr Wort verlassen, ihre Argumente, ihre Kreuzverhöre, ihre Führung. Und genau das war das Problem, das Julia um den Schlaf brachte. Doch in diesem Spiel konnte man nur für eine Mannschaft spielen, und sie hatte sich schon vor langer Zeit entschieden. Und wenn ihre Mannschaft falsch lag?
« Du machst Witze, oder?», sagte Rick nach einer langen Pause, rückte ein Stück von ihr ab und legte sich auf den Rücken.
« Was ist, wenn wir uns irren? Wenn er wirklich krank ist?», fragte Julia.
« Hast du dich das noch nie gefragt?»
« Ehrlich gesagt, nein. Ich bitte dich, Julia, du hast die Aussagen gehört und die Gutachten gelesen. Was gibt es denn da noch zu bezweifeln? Du müsstest inzwischen wissen, dass man sich für genügend Geld einen Experten kaufen kann, der einem immer schön nach dem Mund redet, und genau das hat die Verteidigung getan. Hör zu, Süße, ich habe in den letzten zwanzig Jahren einige Erfahrungen mit kranken Straftätern gesammelt. Und das waren meistens einfach nur abgrundtief schlechte Menschen, die so taten, als seien sie krank.»
« Du bist also der Meinung, dass die meisten Leute die Krankheit bloß vortäuschen?» Rick lachte.
« Wenn es um einen Strafprozess geht? Ja, der Meinung bin ich allerdings. Würdest du es nicht auch versuchen? Überleg bloß, was der Mann zu verlieren hat.»
« Glaubst du denn, dass es überhaupt Menschen gibt, die tatsächlich geisteskrank sind?» Ihr Magen drehte sich. Stell niemals eine Frage, deren Antwort du nicht hören willst.
« Meine Güte», sagte Rick und gähnte.
« Ich dachte immer, Frauen wollen nach dem Sex kuscheln. Und du nimmst mich stattdessen ins Kreuzverhör.» Julia schwieg.
« Na gut, ich beiße an.» Er setzte sich auf und lehnte sich gegen das Kopfteil.
« Ja, ich glaube, dass viele Menschen ernstzunehmende psychische Probleme haben, Schizophrenie, manische Depressionen oder auch postnatale Depressionen. Ich glaube auch, dass eine Menge dieser Menschen von unserer Gesellschaft alleingelassen wird. Das ist eine traurige Tatsache.» Als Julia nichts erwiderte, fuhr er fort:
« Mir tun diese Menschen leid. Aber ich glaube nicht an den ganzen ‹Der Teufel hat es mir befohlen›-Mist. Ich bin der Ansicht, dass selbst Geisteskranke ihr Verhalten kontrollieren können. Auch wenn man in seinem Kopf Stimmen hört, weiß man doch, dass es Unrecht und ein Verbrechen ist, seine fünf Kinder in der Badewanne zu ersäufen, ganz egal, wer einem den Auftrag dazu erteilt.» Damit spielte Rick auf Andrea
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