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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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Julia sich vorkam wie bei einem Viehauftrieb. Menschen drängelten sich an ihr vorbei, berührten sie mit ihrer nassen Kleidung oder ihren Regenschirmen und atmeten ihr ins Gesicht. Es half nicht mehr, von zehn abwärts zu zählen, also fing sie bei vierzig an, ballte ihre freie Hand immer wieder zu einer Faust und atmete durch den Seidenschal, den sie sich um den Hals gewickelt hatte.
« Hallo, du», flüsterte eine Stimme in ihr Ohr.
« Wo hast du dich die ganze Zeit versteckt?» Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, zuckte zusammen und drehte sich abrupt um. Lat stand vor ihr und lächelte sie an. Er trug eine Anzughose und ein weißes Hemd, das mit Regentropfen besprenkelt war. Um seinen Hals hing seine Polizeimarke, und in einem Seitenhalfter steckte seine Dienstwaffe, direkt neben dem Handy. Er hatte sich ein Sportsakko lässig über die Schulter geworfen, und seine Haare glänzten feucht. Als Zeuge durfte Lat der Verhandlung nicht beiwohnen. Er hatte zwar schon ausgesagt, es konnte jedoch sein, dass er nochmals in den Zeugenstand gerufen wurde, und seine Aussage sollte nicht von der Aussage anderer Zeugen beeinflusst werden. Julia hatte ihn daher seit über einer Woche nicht mehr gesehen. Sie nickte ihm schweigend zu. Dann kämpften sie sich gemeinsam bis zu einem der Aufzüge vor und quetschten sich hinein.
« Ich bin am Wochenende an deinem Apartment vorbeigefahren», sagte er leise.
« Aber du warst nicht da. Ich wollte dich zu einer Sonntagnachmittagsspritztour einladen.» Im vierten Stock verließen sie den Aufzug und steuerten auf das Chaos zu, das sie vor dem Gerichtssaal erwartete. Als Julia immer noch nichts sagte, verwandelte sich Lats Lächeln in ein besorgtes Stirnrunzeln.
« Ist alles in Ordnung?», fragte er leise und fasste sie leicht am Ellbogen. Julia nickte kurz, schüttelte seine Hand jedoch ab und verschwand wortlos in der Menge. Vor dem Gerichtssaal war als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme ein weiterer Metalldetektor aufgestellt worden, und sie reihte sich mit gesenktem Kopf in die Schlange derjenigen ein, die das Glück gehabt hatten, einen Platz im Gerichtssaal zu ergattern. Genau wie vor dem Gerichtsgebäude wurden auch hier im überfüllten Korridor Protestschilder geschwenkt. Einige waren handgemalt, andere stammten von Menschenrechtsorganisationen und wurden von den entsprechenden Aktivisten hochgehalten. Jemand streckte ihr so abrupt ein Schild mit der Aufschrift
« Die Todesstrafe ist Mord!» entgegen, dass es sie an der Stirn traf.
« Auch du wirst in der Hölle schmoren!», geiferte der Träger des Schildes und kam ihr dabei so nahe, dass sein Speichel ihr ins Gesicht sprühte.
« Hau ab, du Arschloch!», hörte Julia Lat rufen, während sie sich an einem Reporter vorbeidrängte, der die Szene mit amüsierter Miene beobachtet hatte.
« Und nimm dein beschissenes Schild gleich mit. Cormier! Werfen Sie den Typ raus! Niemand darf der Staatsanwältin zu nahe kommen!»
« Das war’s für dich, Kumpel», sagte eine andere Stimme.
« Du bist zu weit gegangen.»
« Hier herrscht Redefreiheit, Officer! Ich kann zu dieser angehenden Mörderin sagen, was ich will! Hey, Lady! Fühlen Sie sich gut dabei, einen unzurechnungsfähigen Mann in den Tod zu schicken?» Es war das Letzte, was Julia hörte, bevor die Türen des Gerichtssaals hinter ihr zufielen und sie sich einen Weg zum Tisch der Staatsanwaltschaft bahnte. ... 7,6,5,4,3,2,1 – atmen. In der vergangenen Woche hatte das Hauptaugenmerk des Prozesses auf der kaltblütigen Brutalität der Morde gelegen. Es ging um die Opfer, um Jennifers und Davids Ehe – darum, David Marquette als einen bösartigen und durchtriebenen Killer darzustellen, als raffinierten, hochintelligenten Mann mit zwei verschiedenen Gesichtern. Doch Mel Levenson hatte den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit verschoben, das Interesse zumindest vorübergehend umgelenkt. Seit drei Tagen stellte die Verteidigung ihre Zeugen vor. Die Gutachter Al Koletis und Margaret Hayes hatten über David Marquettes Wahnvorstellungen berichtet, über die Welt, in der er als Teenager gelebt hatte, über die Stimmen, die er hörte, und die verzerrten Gesichter, die er sah. Die Verteidigung hatte Marquettes Kindheit analysiert, sein Familienleben, seine Ehe und auch seinen in einer psychiatrischen Anstalt lebenden Zwillingsbruder, Jetzt hieß das Thema des Tages Unzurechnungsfähigkeit und ihre juristische sowie medizinische Bedeutung, und zwar nicht nur in der internationalen Presse,

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