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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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die Tür getreten war. Im Gerichtssaal herrschte für etwa dreißig Sekunden absolute Stille. Dreißig Sekunden zu lange für Farley, dessen Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten. Er beugte sich vor.
« Hallo? Sollen wir diesen Zeugen nur ansehen, oder wollen Sie ihn auch befragen, Miss Valenciano?» Julia starrte auf ihre Notizen und biss sich auf die Lippe. Dann stand sie langsam auf und trat zum Zeugenstand, ließ die Zettel jedoch auf dem Tisch zurück. Sie spürte die Augen der Geschworenen auf sich, die jeden ihrer Schritte verfolgten. Alice Wade lächelte ihr zu. Die Geschworenen mögen dich. Sie vertrauen dir.
« Guten Morgen, Doktor. Bitte nennen Sie dem Gericht Ihren Namen und Ihren Beruf», sagte sie schließlich.
« Mein Name ist Christian Barakat. Ich bin ein staatlich anerkannter forensischer Psychiater und habe eine Privatpraxis hier in Miami, in der Brickell Avenue.»
« Wie lange praktizieren Sie schon als Psychiater?»
« Seit sechzehn Jahren.»
« Bitte informieren Sie das Gericht über Ihre beruflichen Qualifikationen.» Barakat war ein erfahrener Zeuge. Er hatte bereits in vielen medienträchtigen Prozessen ausgesagt und wusste genau, wie er sich ins rechte Licht rücken und als Experten ausweisen konnte. Er benötigte allein zehn Minuten, um die Meilensteine seiner Karriere aufzuzählen – darunter ein Summa-cum-laudeAbschluss in Yale, ein Doktortitel von der medizinischen Fakultät der University of Miami und ein hochdotiertes Forschungsstipendium der New York University.
« Hatten Sie Gelegenheit, den Angeklagten David Marquette zu untersuchen?», fragte Julia, nachdem er fertig war.
« Ja, die hatte ich.»
« Wann war das und unter welchen Umständen?» Irgendwo in ihrem Kopf hörte sie plötzlich Ricks Stimme. Hörte die Worte, die er an dem Tag zu ihr gesagt hatte, an dem er sie zur zweiten Anwältin gemacht und die Ernennung mit einem leidenschaftlichen Kuss besiegelt hatte. Du wirst deine Sache hervorragend machen, davon bin ich überzeugt. Bald würde er Generalstaatsanwalt sein.
« Ich habe zweimal die Gelegenheit gehabt, mich mit Dr. Marquette zu unterhalten», erwiderte Barakat und blätterte in seinen Notizen.
« Das erste Mal am fünfzehnten Dezember 2005, gemäß einer richterlichen Anordnung zur Feststellung der Prozessfälligkeit des Angeklagten. Am achten Januar dieses Jahres befragte ich ihn, um zu ermitteln, ob er zu dem Zeitpunkt, an dem er seine Frau und seine drei Kinder ermordete, im juristischen Sinne unzurechnungsfähig war.»
« Einspruch!», rief Mel Levenson.
« Der Zeuge fällt bereits ein Urteil.»
« Stattgegeben», sagte Farley.
« Es ist die Aufgabe der Geschworenen, zu entscheiden, ob der Angeklagte ein Mörder ist oder nicht.» Julia blickte hinüber zu David Marquette, der ausdruckslos vor sich hinstarrte. Er schien völlig in seine eigene Welt versunken zu sein, kilometerweit entfernt vom Gerichtssaal. Dieser Fall ist zu nahe dran, Julia. Er bringt nur – Verzweiflung. Hören Sie mir zu, Frau Staatsanwältin? Er hat es nicht getan. Ich habe sie gerettet. Julia verbannte die Stimmen aus ihrem Kopf und trug die nächste Zeile ihres auswendig gelernten Textes vor.
« Bitte erläutern Sie uns, wie Sie den Zustand des Angeklagten in der Tatnacht einschätzen würden.» Was ging in Marquettes Kopf vor, in dieser rätselhaften verborgenen Welt? Hatte er Angst? Wusste er, dass er zum Tode verurteilt werden konnte? Begriff er, dass er etwas Furchtbares getan hatte? Würde er entsetzt sein, wenn die Realität irgendwann an seine Tür klopfte und Einlass begehrte, was laut Andy durchaus geschehen konnte? Würde er in der Lage sein, der Wahrheit ins Auge zu sehen? Würde er damit leben können? Es ist, als ob man die ganze Zeit ein völlig anderes Leben gelebt hätte, und plötzlich zieht jemand den Vorhang beiseite und sagt: ‹Ätsch, hast du nicht! Das ist dein wirkliches Leben! Aber du erkennst es nicht ... Und dann stehst du plötzlich da mit dem, was du getan hast. Ganz allein. Und was du getan hast, ergibt noch nicht einmal einen Sinn. An diesem Punkt erkennst du, dass es dir bessergehen würde, wenn du verrückt geblieben wärst, Ju-Ju.» Plötzlich sah Julia ihren Bruder vor sich. Vierzehn Jahre zuvor hatte auch er auf der Anklagebank gesessen. Ein ängstlicher Junge mit dunkelbraunen Locken und blasser Haut, dessen Verstand in einer anderen, schrecklichen Welt gefangen war, ein Junge, ganz allein in einem Gerichtssaal voller Menschen, die ihn hassten,

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