Vater unser
was passiert war und was sie herausgefunden hatte. Sie wollte, dass er herkam und ihr Apartment durchsuchte, wollte seine Stimme hören, wollte ihn sagen hören, alles sei in Ordnung. Aber sie konnte es nicht. Er hatte ihr unmissverständlich klargemacht, wie er zu ihr stand, und das musste sie akzeptieren. Außerdem hatte er gewusst, dass Marquette inoffiziell der Morde in Nordflorida verdächtigt wurde, sie jedoch nicht darüber informiert. Auch er hatte also Geheimnisse vor ihr. Julia verriegelte die Wohnungstür, ließ überall die Rollladen herunter und schaltete das Licht aus. Dann ging sie ins Schlafzimmer und setzte sich mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt auf den Boden. Sowohl das schnurlose Telefon als auch ihr Handy lagen in Reichweite. Es war ein Spinner, sagte sie sich. Nur ein Spinner. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten. E S IST, als hätte in Davids Kopf ein verhängnisvolles Erdbeben stattgefunden.» Im Gerichtssaal herrschte vollkommene Stille, während Dr. Al Koletis einen Schluck Wasser trank und von seinen Notizen über David Marquettes psychischen Zustand aufsah. Eine Lesebrille thronte auf seiner Nase.
« Ich versuche, den Angehörigen eines schizophrenen Patienten diese Krankheit immer mit ganz einfachen Worten zu erklären», fuhr Koletis an Mel Levenson gewandt fort.
« Anfangs sind die Betroffenen völlig unauffällig, sie haben Freunde, einen Beruf und Beziehungen wie jeder andere Mensch. Sie erledigen zuverlässig ihre Jobs, sie stehen im Supermarkt hinter uns in der Schlange. Kurzum, es sind ganz normale, produktive Mitglieder der Gesellschaft, die oftmals eine glänzende Zukunft vor sich haben. Doch tief unter der Oberfläche beginnen sich die Strukturen ihres Gehirns unmerklich zu verändern. Diese Veränderungen schaffen etwas, was ich als Störungszone bezeichnen möchte. Und in diesem Areal wächst ständig ein Krisenpotenzial, das sich irgendwann entladen wird. Und zwar plötzlich und unerwartet. Wie ein Erdbeben. Manchmal fallen bei einem Erdbeben lediglich ein paar Bilder von der Wand. Aber ein anderes Mal ist der Schaden weitaus größer. Ein Erdbeben kann die Struktur eines Gebäudes zerstören. Das Haus mag oberflächlich betrachtet unbeschädigt aussehen, aber ein Blick ins Innere verrät, dass die Mauern jeden Moment einstürzen können. Und wenn ein Erdbeben stark genug ist, kann es sogar ganze Landschaften verändern und im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzen. Dasselbe gilt für die Schizophrenie. Die Anfangsphase der Krankheit – das Vorbeben – mit allmählichem Anstieg der Stressfaktoren und Veränderungen der Gehirnstruktur wird Prodromalstadium genannt. Im Rückblick auf dieses Stadium entdeckt man meist erste Warnzeichen, wie etwa Depressionen, Rückzug in sich selbst oder ein verändertes Schlafmuster, Darauf folgt das eigentliche Erdbeben, die akute Psychose, in der die Realität zusammenbricht. Dann setzen auch Halluzinationen und eventuell Paranoia ein. Die Zeit nach der Psychose ist die Erholungsphase. Die Krankheit verläuft bei jedem Betroffenen anders, genau wie kein Erdbeben dem anderen gleicht. Manche Menschen können nach der psychotischen Phase mit Hilfe von Medikamenten normal weiterleben. Andere kommen ganz ohne Medikamente aus. Einige wenige haben sogar das Glück, nie wieder eine psychotische Episode durchzumachen. Andere hingegen bewegen sich ständig in der Risikozone eines erneuten Erdbebens. Auf den ersten Blick wirken diese Menschen ganz normal, doch im Grunde kommen sie nicht allein zurecht. Ihre strukturelle Integrität ist zerstört, ihre Mauern sind zerbrechlich. Und schließlich gibt es noch jene, deren gesamte innere Landschaft sich verändert hat. Sie schaffen es nicht, sich wieder in die Gesellschaft; einzugliedern, und benötigen ihr Leben lang ärztliche Betreuung. Die Krankheit hat sie zu vollkommen anderen Menschen gemacht.» Dr. Koletis hielt für einen Moment inne und nahm seine Brille ab. Mit sicherer Stimme fuhr er fort:
« David erlitt im Alter von neunzehn Jahren einen psychotischen Zusammenbruch. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der nächste kommen würde, besonders, da David keine vorbeugenden Medikamente einnahm. Eigentlich ist es ein Wunder, dass es ihm die ganzen Jahre über so gut ging. Aber äußerliche Stressfaktoren – vielleicht das Neugeborene, berufliche Belastungen, Eheprobleme – verursachten eine neuerliche Psychose. Diesmal mit wahrhaft katastrophalen Folgen.»
« Sie haben ausgesagt, dass
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