Vater unser
vielleicht keinen Unterschied machte und die Geschworenen womöglich beschließen würden, alles zu ignorieren, was sie heute gehört hatten – Julia hatte getan, was sie für richtig hielt.
« Julia! Warte!» Als sie Lat ihren Namen rufen hörte, beschleunigte sie ihre Schritte, stieß die Tür zum Treppenhaus auf und hetzte die Stufen hinunter. Sie konnte jetzt niemandem in die Augen sehen, wollte nicht mit Fragen oder enttäuschten Gesichtern konfrontiert werden – besonders nicht mit Lats. In der zweiten Etage verließ sie das Treppenhaus wieder und ging zu den Aufzügen. Sie würde den Fahrstuhl in die Tiefgarage nehmen. Plötzlich klingelte ihr Handy. Julia fuhr zusammen und zog es mit zitternden Händen aus ihrer Tasche. Vielleicht war es Rick, der sie feuern wollte, noch bevor sie das Gebäude verlassen hatte. Oder Lat rief an, um zu fragen, warum sie vor ihm davonlief. Womöglich war es auch der anonyme Anrufer vom Freitagabend, der ihr zu ihrer hervorragenden Arbeit gratulieren wollte. Doch auf dem Display erschien eine Nummer mit New Yorker Vorwahl.
« Hallo?», flüsterte sie, während sie mit einigen anderen auf den Aufzug wartete, und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass weder Lat noch die Reporter ihr gefolgt waren.
« Miss Valenciano? Hier ist Mary Zlocki aus Kirby.»
« Hallo, Mary. Ich bin noch im Gericht.» Sie betrat den Fahrstuhl und drückte auf den Knopf für die Tiefgarage.
« Es geht um Ihren Bruder», erklärte Mary.
« Ja ... Ich komme am Samstag. Ich werde da sein, wenn er verlegt wird.» Die Verbindung wurde schlecht. In der ersten Etage stiegen einige Leute aus, und Julia wich so weit wie möglich in die Kabine zurück, damit sie beim nächsten Halt niemand von der Eingangshalle aus entdecken konnte.
« Ich stehe gerade in einem Aufzug, Mary. Es könnte sein, dass die Verbindung gleich abbricht.»
« ... möchte ... über Andrew ...», ertönte Marys Stimme. Dann hörte Julia nichts mehr.
« Mary? Mary? Sind Sie noch da?», fragte sie leise. Kurz darauf öffneten sich die Aufzugtüren in der schlechtbeleuchteten Tiefgarage, und Julia trat hinaus.
« Mary?»
« Miss Valenciano?», ertönte eine ernste Stimme in der Leitung, die Julia sofort als die von Dr. Mynks erkannte. Mary hatte sie offenbar durchgestellt. Julia ging schnell auf das kleine Rechteck aus Tageslicht zu, das nach draußen führte.
« Hier spricht Dr. Mynks, Miss Valenciano. Ich muss mit Ihnen reden.»
« Ich habe gerade schon Mary gesagt, dass ich auf jeden Fall am Samstag dabei sein werde, Dr. Mynks. Ich fliege morgen –»
« Miss Valenciano», unterbrach sie der Arzt sanft, aber nachdrücklich, « Andrew ist tot.» Julia ließ das Handy fallen und sah zu, wie es zeitlupenhaft auf dem Betonboden der Tiefgarage zerbrach.
KAPITEL 90
JULIA SASS auf derselben Kunststoffbank und starrte auf dieselben Ausgaben von People Magazine und Time wie bei ihrem ersten Besuch drei Monate zuvor. Tom Cruise und Katie Holmes waren immer noch ein Paar, im Irak hatte man immer noch keine Massenvernichtungswaffen gefunden. War sie tatsächlich erst vor wenigen Monaten zum ersten Mal hier gewesen? Wie sehr sich ihr Leben in der Zwischenzeit verändert hatte ... Sie sah sich im Wartebereich um, der an diesem Samstagmorgen wieder einmal menschenleer war. Auch heute würden keine Besucher kommen – wie immer. Die Wachmänner hinter der kugelsicheren Scheibe schauten nicht ein einziges Mal zu ihr herüber. Offenbar wussten sie, warum sie hier war. Sie war Cirtos Schwester. Eine Aussätzige. Die Tür zum Bürotrakt öffnete sich, und Dr. Mynks betrat den Wartebereich. Julia nahm ihre Handtasche und erhob sich, um ihm in sein Büro zu folgen, doch Dr. Mynks ließ die Tür ins Schloss fallen und kam auf sie zu. Er hatte eine große, braune Papiertüte in der Hand, eine von der Sorte, wie man sie im Supermarkt bekam. Julia erkannte, dass Dr. Mynks nicht vorhatte, sich allzu lange mit ihr zu unterhalten.
« Miss Valenciano», begrüßte er sie in demselben sanften und doch unpersönlichen Tonfall, in dem er am Telefon mit ihr gesprochen hatte.
« Im Namen aller Angestellten von Kirby möchte ich Ihnen mein Beileid bekunden. Es ist eine Tragödie, und wir werden natürlich sämtliche Umstände, die den Tod Ihres Bruders betreffen, prüfen.» Er reichte ihr die Tüte.
« Die Betreuer auf Andrews Station dachten, dass Sie vielleicht gern seine persönlichen Sachen hätten. Es ist hauptsächlich Kleidung, aber auch ein paar
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