Vater unser
Springer Show sah und sich wenig dafür interessierte, was Julia tat oder sein ließ. Auf dem Weg zum Aufzug hörte sie ihren Anrufbeantworter ab und trug hastig Lipgloss auf. Es war noch nicht elf, die meisten der Staatsanwälte, waren drüben am Gericht auf der anderen Straßenseite, und die Türen zu ihren leeren Büros standen offen. Als sie an der Sekretärin von Richter Stalders Abteilung vorbei um die Ecke ging, entdeckte sie ihre beste Freundin Dayanara, die an ihrem Schreibtisch saß und telefonierte.
« Gut, dass du da bist», flüsterte sie, während sie das Handy und das Lipgloss in der Handtasche verstaute und in Dayanaras Büro trat. Sie fischte den Herald aus dem ordentlichen Eingangskorb. Wie immer roch es nach Zitrone, Glasreiniger und kubanischem Kaffee. Bei Dayanara gab es keine wartenden Abschlussberichte, keine Kisten, die der Archivierung harrten – nichts stand herum bis auf eine Radiouhr, eine Plastikdo— se mit Pilon-Kaffee und einen Seifenspender. Selbst der kleine Beistelltisch, auf dem Dayanara jeden Nachmittag Cafè cubano für zwanzig Leute kochte, war blitzsauber – keine Espressobohne, kein Zuckerkörnchen war zu sehen. Wären die beiden Frauen nicht seit so langer Zeit so gut befreundet gewesen, hätte Days Ordnungsfimmel Julia Angst gemacht, aber bis auf die Tatsache, dass sie Day um ihren umgänglichen Richter beneidete, gab es zwischen den beiden keine Konkurrenz.
« Darf ich mir die ausleihen?», flüsterte sie und machte auf dem Absatz kehrt, ohne Days Antwort abzuwarten.
« Einen Moment bitte, Sir ...» Day hielt die Hand auf den Hörer.
« Hey, ich habe die Witze noch nicht gelesen. Pass bloß auf, dass du sie nicht zerfledderst.»
« Ja, ja», sagte Julia und winkte ihrer Freundin zu.
« Lass dich nicht stören.»
« Gehen wir Mittag essen?»
« Kann nicht. Nicht heute.»
« Gerichtstermin? »
« Morgen. Möchtest du eine Anklage wegen häuslicher Gewalt mit mir verhandeln? Auf Grundlage einer Äußerung unter Stress?»
« Nein danke. Wo willst du dann hin?»
« Erzähl ich dir später», rief Julia ihr über die Schulter zu, als sie den Flur hinunter zur Sicherheitstür ging, die zu den Fahrstühlen rührte.
« Du wirst es nicht glauben.» KEINE VERDÄCHTIGEN BEIM MASSAKER IN CORAL GABLES verkündete die Schlagzeile in ihrer Hand reißerisch. Morgens vor der Arbeit hatte sie sich nicht die Zeit genommen, den Artikel zu lesen, doch jetzt war jedes Detail wichtig; sie musste sich jeden Namen, jeden Titel merken und im Kopf katalogisieren. Nervös sah sie sich unter den Wartenden vor den Fahrstühlen um und nickte ein paar ihrer Kollegen zu. Irgendwie fühlte sie sich deplatziert – wie ein Trainer, der jetzt schon wusste, dass nach dem großen Spiel heute Abend das Management den Quarterback absägen würde, und der trotzdem zuversichtlich in die Kameras blicken musste. Hier stand sie, im Kreis ihrer nichtsahnenden Teamkollegen, und wusste von dem traurigen, schockierenden Geheimnis, das in Kürze die Schlagzeilen auf den Kopf stellen würde. Und doch erfüllte sie auch noch etwas anderes – die Aufregung vor dem Spiel. Ihr Blick flog über die Zeilen: Jennifer Leigh Marquette, 32, Emma Louise Marquette, 6, Daniel Elan Marquette, 3, Sophie Marie Marquette, sechs Wochen. Ein kleines grobkörniges Schwarzweißbild zeigte eine lächelnde Jennifer. Der Abzug war schlecht, aber sie konnte sehen, dass Jennifer eine hübsche Frau gewesen war, mit einem strahlenden, ansteckenden Lächeln. Wie immer hatte die Presse es geschafft, ein glückstrahlendes Foto des Opfers aufzutreiben, um es effektvoll neben der Geschichte des grausamen Mordes zu platzieren. ... wurden nach einem Notruf bei der Polizei am frühen Sonntagmorgen tot aufgefunden ... brutal ermordet in der geräumigen Villa in einem ruhigen, gutsituierten Viertel von Coral Gables ...der langjährige Polizeichef Elias Vasquez lässt keine weiteren Details verlauten ... beschreibt das Szenario am Tatort als eines der schlimmsten, das er je gesehen hat» ... Spurenermittlung des MiamiDade Police Department den ganzen Tag vor Ort... bisher keine Verdächtigen ... Benachrichtigung der Familie in Pennsylvania steht noch aus .. . noch kein Termin für eine Gedenkfeier ... Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie den fett gedruckten Zwischentitel weiter unten auf der Seite las: ZUSTAND DES VATERS WEITERHIN KRITISCH: GEMEINDE UND KRANKENHAUSMITARBEITER BETEN Vom nächsten grobkörnigen Bild, einem Passfoto, lächelte
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