Vater unser
Ich mache diese Arbeit nun schon seit vielen Jahren», begann er in einem freundlichen Plauderton.
« Seit wirklich langer Zeit. Und ich erinnere die Geschworenen immer gern daran, dass es sich bei dem, worüber der Staatsanwalt und ich in unseren Schlussplädoyers sprechen, nicht um Beweise handelt, ganz egal, was wir sagen, wie wir es sagen und wie schlüssig es klingen mag. Die Schlussplädoyers bieten der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung lediglich die Gelegenheit, den Fall zusammenzufassen und zu erklären, was die während des Prozesses vorgelegten Beweise ihrer Meinung nach bedeuten. Aber die Schlussplädoyers selbst sind keine Beweise. Das kann man leicht vergessen, wenn man einen gutaussehenden, gutangezogenen und überzeugenden Mann wie Mr. Bellido vor sich hat, der einem sagt, wie man die Dinge zu interpretieren hat.» Levenson machte eine wohldosierte Sprechpause und warf ein Lächeln hinüber zum Tisch der Staatsanwaltschaft. Im Gerichtssaal wurde gekichert, und einige weibliche Geschworene senkten verlegen den Blick.
« Der Staatsanwalt hat uns eine, wie er selbst sagt, ‹brillante› Theorie vorgestellt. Aber es ist seine Theorie, seine Interpretation der Beweise, nicht die Wahrheit. Mr. Bellido verfügt über eine rege Phantasie. Er hat eine verworrene Geschichte zusammengesponnen – drei Geschichten, um genau zu sein –, die sich darum drehen, was mein Mandant in jener Nacht wirklich vorhatte. Aber Mr. Bellido besitzt keine übernatürlichen Kräfte, meine Damen und Herren, er kann keine Gedanken lesen. Keine seiner drei Geschichten basiert auf Fakten, die wir während der Verhandlung gehört haben. Mr. Bellidos brillante Theorie ist ein Kartenhaus, das bei dem leisesten Luftzug in sich zusammenfallt.» Levenson legte seine großen Hände lässig auf das Geländer der Geschworenenbank.
« Das Gesetz von Florida besagt schlicht und einfach Folgendes: Wenn der Angeklagte zum Tatzeitpunkt an einer geistigen Störung litt und aufgrund dieser Störung nicht wusste, was er tat, oder nicht begriff, dass seine Handlung falsch war, gilt er als unzurechnungsfähig. Und», fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu, « es hat keinerlei Bedeutung, ob der Angeklagte im vergangenen Jahr oder gestern Nacht geistig normal war oder ob er es jetzt in diesem Moment ist – es kommt nur darauf an, ob er zum Zeitpunkt der Tat zurechnungsfähig war.» Er hielt für eine Weile rnne, da jeder hinüber zu David Marquette sah.
« Mr. Bellido möchte nicht, dass Sie glauben, dass mein Mandant an paranoider Schizophrenie leidet. Er möchte nicht, dass Sie glauben, dass er Stimmen hört und Wahnvorstellungen hat. Sie sollen nicht glauben, dass die Stimmen in Davids Kopf – die niemals schweigen, wie Dr. Koletis und Dr. Hayes beide bezeugt haben – ihm sagten, seine Familie sei von Dämonen besessen und er würde seine Frau und seine Kinder nicht umbringen, sondern ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis retten. Aber ich sage Ihnen: David wusste nicht, dass er etwas Falsches tat, denn in seiner Welt, in seiner Realität waren seine Frau und seine Kinder bereits tot. Er brachte sie nicht um, sondern trieb den Teufel aus ihren sterblichen Hüllen aus. Den Teufel, der sich auch seiner eigenen Seele bemächtigen wollte. Und wenn dies geschehen wäre, hätte es niemanden mehr gegeben, der die Seelen seiner Familie hätte retten können. Das ist es, was David glaubt, ganz egal, was ein Staatsanwalt oder ein Detective vom Morddezernat oder selbst sein eigener Anwalt ihm sagen. Davon kann ihn niemand abbringen, denn das ist Davids Realität. Er glaubt, er habe das Richtige getan. Und in seiner Welt, meine Damen und Herren Geschworenen, hat er das Richtige getan!» Levenson schlug mit beiden Händen auf das Geländer und drehte sich dann zu den Zuschauern im Gerichtssaal um. Er schien sich nicht mehr nur an die zwölf Geschworenen zu richten, sondern an die ganze Welt.
« Es ist einfach, nicht daran zu glauben, nicht wahr? Es ist leicht, zu bezweifeln, dass jemand dermaßen verrückte Gedanken haben könnte, wenn man selbst nicht davon betroffen ist. Denn Sie, meine Damen und Herren, leiden nicht an einer Geisteskrankheit, Sie werden nicht von Ihrem eigenen Gehirn manipuliert, Sie sehen und hören keine Dinge, die gar nicht existieren. Sie leben nicht in einer anderen Welt. Daher möchte ich, dass Sie jetzt einen Augenblick lang in sich gehen – und versuchen, sich vorzustellen, was in dieser bemitleidenswerten Person vor sich
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