Vater unser
nutzte nichts, die Erinnerungen waren genauso bittersüß – genauso schmerzhaft – wie damals, als sie begonnen hatte, sie zu verdrängen. Leise trommelte der Regen gegen die Fenster ihres Wohnzimmers und verwandelte die Straßenbeleuchtung in verschwommen glitzernde, gelbe Streifen. Moose, der Julias Sorgen spürte, sprang zu ihr auf die Couch, rollte sich auf ihrem Schoß zusammen und fiel augenblicklich in tiefen Schlaf. Sie sah zu, wie sich sein Brustkorb unter ihren Fingern hob und senkte. Vor sechs Jahren hatten sie einander gefunden, als er noch ein Welpe war und sie Studentin am College. Er irrte durch den tiefen Schnee, als sie von einem langweiligen Jurakurs zurückkehrte. Er hatte sich die Pfote verletzt, und sein kurzes Fell war räudig, doch seine braunen Augen waren voller Seele. Wahrscheinlich hatte er schlimme Dinge erlebt. Verloren und vollkommen allein in der großen Stadt, wollte er nur eins – überleben, genau wie sie. Zuerst hatte er Angst, doch mit Geduld schaffte sie es, ihn zu sich zu locken. Und als sie ihn endlich hochhob, kuschelte er sich in ihren Schal, als würde er hoffen, dass er endlich am Ende seiner Reise angekommen war. Sie nahm ihn mit nach Hause, badete und fütterte ihn. Der Rest war Geschichte. Seitdem hatte er sich nie mehr als einen Steinwurf von ihr entfernt, wenn es sich vermeiden ließ. Moose war so vertrauensvoll, so verwundbar, dachte sie, als sie ihn jetzt ansah, vor allem, wenn er schlief. Wie ein Kind. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als das Band zu Ende war und der Bildschirm blau wurde. Sanft schob sie Moose von ihrem Schoß und ging zum Videorecorder. Sie drückte EJECT, und das letzte Band schob sich heraus. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, die ihr über die Wangen liefen, und schob das Video in die Hülle mit der Aufschrift: Momys Geburtstag 4.10. 05. Dann legte sie es zurück zu den anderen in den Karton mit Beweisstücken. Jennifer und die Kinder hatten nur noch eine Woche zu leben gehabt, an diesem Tag.
KAPITEL 24
D REI TAGE nach David Marquettes Erster Anhörung und zehn Tag nach ihrer Ermordung wurden Jennifer Marquette und ihre drei Kinder nach Cherry Hill überführt und endlich beerdigt. Lat und Brill führen an der Menschenmenge auf der Treppe der St.-Mary’s-Church vorbei, stellten den Mietwagen ab und schlossen sich dem Trauerzug an, als die drei kleinen weißen Särge der Kinder gerade hinter dem der Mutter in die Kirche getragen wurden. Drinnen versuchten vom Kummer gezeichnete Angehörige und Freunde, sich gegenseitig zu trösten. Jennifers Vater hielt eine kurze Ansprache und erinnerte sich, wie er seine Tochter Jahre zuvor an genau diesem Altar dem Mann anvertraut hatte, der jetzt im Verdacht stand, sie ermordet zu haben. Lat, in seinem besten schwarzen Anzug, stand unbehaglich neben Brill. Was Jennifers Vater durchmachte, konnte er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen. Er hatte keine Kinder, aber eines wusste er: Wenn er an der Stelle dieses Mannes gewesen wäre, hatte man ihm die Dienstwaffe abnehmen müssen. Ein paar Stunden später saßen die beiden Detectives auf seidenbespannten Stühlen im Wohnzimmer von Renny und Michael Prowse. Auf dem Tisch vor ihnen lag ein Stapel Fotoalben, daneben standen zwei Tassen mit dampfend heißem Kaffee. Eine alte Kuckucksuhr in der Ecke tickte laut. Die Prowses hatten auf dem Klavier einen Altar für ihre Tochter und ihre Enkelkinder errichtet, mit Fotos und brennenden Kerzen, über den ein gekreuzigter Jesus aus Keramik wachte. Wie im Haus der Marquettes hingen auch hier überall Familienfotos. Eine lange Reihe von Porträtaufnahmen zeichnete die Entwicklung der drei Prowse-Töchter nach – vom Kindergarten über die Highschool bis zum College-Abschluss. Überhaupt schien jedes wichtige und weniger wichtige Ereignis auf Fotopapier gebannt, gerahmt und aufgehängt worden zu sein, ganz egal, ob die Fotos gelungen waren oder nicht. Lat ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. HummelFiguren drängten sich in einer Vitrine, im Wandschrank saß eine Sammlung von Beanie-Babys mit Etikett, und auf dem Kaminsims befand sich ein mit rotem Samt ausgeschlagener Schaukasten voller winziger Kristallfigürchen. Offensichtlich waren die Prowses Sammler. Eine Familie, die sich nicht gern von Erinnerungsstücken trennte. Anscheinend hatte die gesamte Nachbarschaft ihre Aufwartung gemacht und etwas zu essen vorbeigebracht. Platten, Schüsseln und Töpfe fanden in der
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