Vater unser
Huuunger!»
« Du hast gerade zu Abend gegessen, junger Mann. Vielleicht willst du noch ein paar Karotten, wenn du so viel Hunger hast.» Danny schüttelte wild den Kopf. Dann stellte er sich auf Zehenspitzen an die Küchentheke und versuchte zu erkennen, was Mommy machte.
« Kann ich die Schüssel auslecken?»
« Danny! Ich tanze. Geh weg», verlangte Emma mit einer Schnute und stemmte die Hände in die Hüften.
« Ich will Kuchen», rief Danny, rieb sich die Nase und zog am Hosenbein seiner Mutter. Das zerzauste braune Haar klebte ihm an der verschwitzten Stirn.
« Kommt sofort», rief Jennifer.
« Alle mal herhören, der Kuchen ist fertig! Pünktlich zur Geisterstunde. Aber zuerst wird gesungen. Dave, bist du fertig? David?» Die Kamera wurde wieder auf Jennifer gerichtet, und das Bild wackelte, als der Mann hinter der Kamera nickte. Als die kleine Gruppe in der Küche Happy Birthday sang, folgte die Kamera Jennifer, die den Schokoladenkuchen zum Küchentisch trug und dabei versuchte, den bunten Luftballons auf dem Boden auszuweichen. Dann blies sie die Kerze aus, und alle klatschten Beifall.
« Jippie! Ich will Kuchen! Ich will ein großes Stück!», rief Danny. Die kleine Sophie begann wieder zu jammern. Jennifer nahm sie auf den Arm und versuchte, ihr die Flasche zu geben und gleichzeitig mit der anderen Hand ein Stück Kuchen zu essen.
« Guck mal», rief Emma in die Kamera und drehte wieder eine Pirouette, ohne auf das Stück Kuchen zu achten, das Jennifer ihr abgeschnitten hatte.
« Guck mal, Daddy. Guck!» O nein, nein ... Daddy, nein!» Die Kamera filmte Emma ein paar Minuten lang, bevor die Aumahme plötzlich abbrach. Schwarzweißes Schneegestöber flimmerte über Julias Bildschirm. Die Polizei von Coral Gabies hatte neunzehn Videokassetten aus dem Haus der Marquettes mitgenommen. Julia hatte jede einzelne kopieren lassen und sich in den letzten Tagen zu Hause auf dem Sofa jedes Band angesehen. Sie hatte gesehen, wie die hübschen Babys eins nach dem anderen aus dem Krankenhaus nach Hause kamen, sorgfältig eingepackt in den Armen der stolzen Mutter. Sie hatte gesehen, wie Danny und Emma Sitzen, Krabbeln, Laufen und Schwimmen lernten. Wie Emma Lesen und Schreiben und Fahrradfahren lernte. Geburtstage und Weihnachten unter einem großen geschmückten Plastiktannenbaum. Sie hatte die Toten gesehen, wie sie atmeten und lachten. Die Bänder waren ihre einzige Verbindung zu einer Familie, die sie nie kennengelernt hatte. Eine Familie, die sie zu sehr an ihre eigene erinnerte ... Wie Danny hatte ihr großer Bruder Andrew als kleiner Junge Matchboxautos gesammelt. Feuerwehrautos vor allem. Einen kleinen roten Feuerwehrtruck nahm er überall mit hin. Einmal hatte er im Kaufhaus etwas angestellt. Hatte er eine Schaufensterpuppe umgeworfen? Sich versteckt? War er ausgerissen? Mama hatte ihn neben den Umkleidekabinen in die Ecke geschickt. Und da stand er, für immer in Julias Erinnerung eingebrannt, mit sieben oder acht Jahren, das rote Feuerwehrauto in der Hand, still und unglaublich stoisch, selbst nach dem festen Klaps auf den Popo, den er von Mom kassiert hatte. Keine Tränen in dem trotzigen, sommersprossigen, von dunklen Locken eingerahmten Gesicht. Als Mama sich wieder der Verkäuferin zuwandte, hatte er Julia mit einem frechen Grinsen zugewinkt, bevor er das Feuerwehrauto unter dem Vorhang in die Umkleidekabine rollte. Julia schloss die Augen, versuchte, die Erinnerungen auszublenden. Es war lange her, dass sie sich erlaubt hatte, an Andy zu denken. Auch wenn er vier Jahre älter war, hatten sie einander sehr nahegestanden. Mit seinem schiefen Grinsen konnte ihr Bruder die komischsten Grimassen machen. Und er war mutig. Er balancierte auf Eisenbahnschienen, klingelte bei Mrs. Crick an der Tür, obwohl jeder wusste, dass sie eine Hexe war, aß die matschigen roten Beeren von dem unbekannten Busch neben der Garage. Wenn sie mitten in der Nacht von einem Sturm aufwachte, war es Danny, zu dem sie lief. Sie wusste immer noch, wie sein Atem roch, süß von der Zahncreme und der Schokolade, die er nach dem Zähneputzen heimlich aß, wenn er ihr im Dunkeln Geschichten erzählte, um sie abzulenken. Heute beim Baseball habe ich einen Homerungeschlagen. Und der Trainer sagt, beim Pitchen bin ich sogar noch besser. Keiner hat den Bogen raus wie ich, hat er gesagt. Er meint, nächstes Jahr soll ich bei den Großen mitspielen. Das wäre so cool ...» Er hatte von einer Zukunft geträumt, die es nie geben würde. Es
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