Vater unser
Küche keinen Platz mehr und mussten im Wohnzimmer gelagert werden. Der Geruch von Lasagne, Knoblauch, Kaffee und Würstchen erfüllte das Haus. Und offensichtlich riss der Besucherstrom nicht ab, denn es klingelte in einem fort.
« So geht es schon seit einer Woche», sagte Renny Prowse abwesend und stellte eine Platte mit Keksen und Apfelkuchen auf den Tisch. Sie war eine gepflegte Frau Ende fünfzig, trug ein schwarzes Kostüm und hatte die blonden Haare mit einer Spange zurückgebunden. Doch ihr Make-up konnte die dunklen Ringe unter ihren Augen und die vom Weinen gerötete Haut nicht kaschieren.
« Die Leute sind so nett zu uns. Dabei kennen wir einige von ihnen nicht mal – oder, Mike?»
« Nein», sagte Mike Prowse, Jennifers Vater, der Lat und Brill gegenüber auf der mit Plastik überzogenen Couch saß, « einige kennen wir nicht mal.» Jennifers ältere Schwester Joanne saß neben ihrem Vater und hielt seine Hand. Die jüngere Schwester Janna lehnte schweigend im Türrahmen. Beide waren blond und blauäugig, genau wie ihre Schwester und ihre Mutter. Doch Joanne schien das hässliche Entlein der Familie zu sein. Sie war ungefähr Mitte dreißig, ungeschminkt und trug ein sackartiges Kleid und eine Hornbrille. Janna hingegen war das genaue Gegenteil – Anfang zwanzig, schlank und mit hübschen, ein wenig kokett anmutenden Gesichtszügen.
« Bitte, greifen Sie zu, Detectives», sagte Renny, setzte sich neben ihren Mann und faltete die Hände im Schoß. Lat hasste diesen Teil des Jobs. Er hatte keine Probleme mit dem Anblick blutiger, verstümmelter Leichen – selbst wenn sie schon verwesten –, aber die Gespräche mit den Familien der Opfer nagten an ihm. So sehr, dass er am Ende immer das Gefühl hatte, ein Stück von sich selbst verloren zu haben. Irgendwann würde seine Seele vollständig aufgezehrt sein. Dann würde er seinen Job an den Nagel hängen und sich mit einer Flasche Whiskey in eine einsame Hütte in den Bergen von Montana zurückziehen, wo die größten Sorgen, mit denen er zu kämpfen hatte, heftiger Schneefall und ein früher Wintereinbruch waren. In seinen Anfängen als Streifenpolizist in Miami hatte John Latarrino gelernt, sich von seinem Beruf und den Menschen, die er verhaftete, zu distanzieren. Die Verbrecher waren keine normalen Menschen mehr, sondern Täter, Kriminelle, Stricher, Wichser, Arschlöcher. Seine Exfrau Trish, die im Nebenfach Psychologie studiert hatte, erklärte ihm einmal, dass Polizisten die Guten von den Bösen und die Arbeit von ihrem Privatleben trennen, indem sie Menschen mit abfälligen Ausdrücken belegen. Der Gedanke Wir gegen sie helfe ihnen, ihre Schicht zu überstehen und selbst in einer Situation, in der sie sich machtlos vorkämen, die Kontrolle wiederzuerlangen. Als Lat vor ein paar Jahren zum Morddezernat versetzt worden war, hatte er begonnen, sich eine professionelle Distanz auch gegenüber dem Tod aufzubauen. Ganz egal, wie grausam die Tat gewesen sein mochte, die Leichen waren keine Menschen, sondern tote Körper. Und seine Aufgabe bestand darin, herauszufinden, wie es dazu gekommen war. Ab diesem Zeitpunkt hatte Trish aufgehört, ihn zu analysieren, und ihn nur noch als kalt und gefühllos bezeichnet. Sechs Monate später hatte sie die Scheidung eingereicht. Lat wünschte sich weit weg von hier – an einen Tatort, in ein Meeting oder selbst zum verfluchten Zahnarzt. Irgendwo anders, nur nicht hier. Die Familie der Opfer, die verwirrten, rotgeränderten Augen von Renny Prowse, die Fotoalben, die sie hervorgeholt hatte, machten die toten Körper wieder zu Menschen.
« Uns ist klar, dass dies eine schwierige Zeit für Sie alle ist», sagte er leise.
« Aber wir müssen versuchen, zu ergründen, warum das alles passiert ist.» Renny schüttelte hilflos den Kopf.
« Wir wissen es nicht, Detective. David ist – er schien solch ein anständiger Mann zu sein. Solch ein guter Vater. Aber ...» Sie wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht.
« Aber?», fragte Brill mit vollem Mund. Kekskrümel fielen zu Boden, und Lat warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
« Jennifer war schon so lange fort, Detective. Im Gegensatz zu unseren anderen beiden Töchtern lebte sie weit von uns entfernt. Ich konnte ihr nicht helfen, wenn sie mich brauchte. Ich konnte nicht für sie da sein ... Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem sie aus unserer Einfahrt fuhr – der Wagen voll mit all den Teddybären, die sie über die Jahre gesammelt hatte. In dem
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