Vaterland
ihren Sitzen oder lehnten sich in den Gang, um eine bessere Sicht zu haben. Xaver März, der etwa in der Mitte des Busses saß, hob seinen Sohn auf den Schoß. Die Stadtführerin, eine mittelalte Frau, in das Grün des Reichsfremdenverkehrsministeriums gekleidet, stand vorne, die Füße weit auseinander, mit dem Rücken zur Windschutzscheibe. Ihre Stimme kam kalt über das Laut s precheranlage.
»Der Bogen ist aus Granit und hat ein Volumen von 2 365 685 Kubikmeter.« Sie nieste. »Der Arc de Triomphe in Paris paßt 49mal hinein.«
Einen Augenblick lang dräute der Bogen über ihnen. Dann fuhren sie plötzlich durch ihn hindurch - ein ung e heurer steingerippter Tunnel, länger als ein Fußballfeld, höher als ein 15stöckiges Gebäude, mit der gewölbten verschatteten Decke einer Kathedrale. Die Scheinwe r fe r und Rücklichter von acht Straßenspuren tanzten durch das nachmittägliche Düster.
»Der Bogen ist 118 Meter hoch. Er ist 168 Meter breit und ist 119 Meter lang. In die Innenwände sind die Namen der drei Millionen Soldaten eingemeißelt, die bei der Ve r teidigung des Vaterlandes in den Kriegen von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1946 gefallen sind«
Sie nieste wieder. Die Passagiere verrenkten sich pflichtbewußt die Hälse, um auf die Liste der Gefallenen zu starren. Es war eine gemischte Gesellschaft: eine Gru p pe Japaner mit Kameras; ein amerikanisches Paar mit e i nem kleinen Mädchen in Paules Alter; einige deutsche Siedler, aus dem Ostland oder der Ukraine, zu Führers G e burtstag in Berlin. März sah fort, als sie an der Liste der Gefallenen vorüberfuhren. Irgendwo standen da die Namen seines Vaters und seiner beiden Großväter. Er starrte auf die Stadtführerin. Als sie glaubte, niemand sehe es, wandte sie sich um und wischte sich ihre Nase rasch am Ärmel ab. Der Wagen tauchte im Nieselregen wieder auf.
»Nachdem wir den Triumphbogen verlassen haben, kommen wir in das mittlere Stück der Siegesallee. Die A l lee wurde von Reichsminister Albert Speer entworfen und 1957 fertiggestellt.
Sie ist 123 Meter breit und 5,6 Kilometer lang. Sie ist sowohl breiter als auch zweieinhalbmal länger als die Champs-Elysees in Paris.« Höher, länger, größer, breiter, teurer ... Selbst nach dem Sieg, dachte März, hat Deutsc h land einen Minderwertigkeitskomplex. Nichts stand für sich selbst. Alles mußte mit dem verglichen we r den, was das Ausland hat. »Der Blick von dieser Stelle aus nach Norden entlang der Siegesallee gilt als eines der Weltwu n der.« »Eines der Weltwunder«, wiederholte Paule flü s ternd.
Und das war es, selbst an einem Tag wie diesem. Voll dichten Verkehrs erstreckte sich die Allee vor ihnen, fla n kiert auf beiden Seiten von den Glas- und Granitwänden der Neubauten Speers:
Ministerien, Ämter, große Geschäfte, Kinos, Woh n blocks. Am fernen Ende dieses Lichterstroms erhob sich grau wie ein Schlachtschiff die Große Reichshalle im Sprühregen, ihre Kuppel halb in den niedrigen Wolken verborgen. Von den Siedlern kam anerkennendes Gemu r mel. »Das ist ja wie ein Gebirge«, sagte die Frau, die hinter März saß. Sie war in Begleitung ihres Mannes und ihrer vier Söhne. Sie hatten diese Reise vermutlich den ganzen Winter über geplant. Eine Broschüre des Fremdenve r kehrsministeriums und ein Traum vom April in Berlin: L u xus, sie in den schneegefesselten mondlosen Nächten in Minsk oder Kiew tausend Kilometer von zu Hause entfernt zu wärmen. Wie mochten sie hergekommen sein? Vie l leicht eine organisierte Reise der Kraft-durch-Freude: zwei Stunden im Junkers-Düsenklipper mit einem Zwischena u fenthalt in Warschau. Oder eine 3-Tage-Fahrt im Fam i lien-Volkswagen auf der Autobahn von Moskau nach Be r lin.
Paule strampelte sich aus dem Griff seines Vaters und ging unsicher nach vorne. März kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken, eine nervöse Angewoh n heit, die er sich - wann? - wohl im U-Boot-Dienst angeei g net hatte, nahm er an, als die Schrauben britischer Krieg s schiffe so nahe dröhnten, daß der Schiffskörper e r zitterte und man nie wußte, ob ihre nächsten Wasserbo m ben die letzten sein würden, die man erlebte. Er war 1948 mit Ve r dacht auf Tuberkulose aus der Marine ausgemustert wo r den und hatte ein Jahr zur Erholung verbracht. Danach war er, weil er nichts Besseres fand, der Mar i ne-Küstenpolizei beigetreten, in Wilhelmshaven, als Leu t nant. In jenem Jahr hatte er Klara Eckart geheiratet, eine Krankenschwester, die er in dem
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