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Vaterland

Vaterland

Titel: Vaterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Coriolan-Ouvertüre im öffentlichen Lautsprechersystem. März versuchte, Paule an die Hand zu nehmen, als sie sich ihren Weg durch die Menge suchten, aber der Junge schüttelte sie ab.
    Sie brauchten fünfzehn Minuten, mit dem Wagen aus der unterirdischen Garage herauszukommen, und weitere fünfzehn, um aus den verstopften Straßen um den Bahnhof herauszukommen. Sie fuhren schweigend. Und erst als sie fast zurück in Lichtenrade waren, platzte Paule plötzlich heraus: »Du bist ein Asozialer, nicht wahr?«
    Das war ein so eigenartiges Wort aus dem Mund eines Zehnjährigen, und es wurde so sorgfältig ausgesprochen, daß März fast laut herauslachte. Ein Asozialer: nur noch einen Schritt vom Verräter nach dem Verbrecherlexikon der Partei entfernt. Ein Nichtbeiträger zur Winterhilfe. Ein Nichtmitglied der ungezählten NS-Organisationen. Des NS-Ski-verbandes. Des Bundes der NS-Wanderer. Des Großdeutschen NS-Motorclubs. Der Gesellschaft von NS-Kriminalpolizeibeamten. Eines Nachmittags hatte er sogar im Lustgarten eine Parade der NS-Liga der Träger der L e bensrettungsmedaille gesehen. »Das ist Unsinn.« »Onkel Erich sagt, das es wahr ist Erich Helfferich. Der war jetzt also »Onkel Erich« geworden.
    Ein Fanatiker der übelsten Sorte, ein Ganztagsbürokrat im Berliner Hauptquartier der Partei. Ein aufdringlicher bebrillter Pfadfinderführer ... März spürte, wie sich seine Hand um das Lenkrad krampfte. Helfferich hatte vor einem Jahr angefangen, Klara zu besuchen. »Er sagt, du verwe i gerst den Führergruß und reißt Witze über die Partei.« »Und woher will er das alles wissen?«
    »Er sagt, es gibt im Parteihauptquartier eine Akte über dich, und es sei nur eine Frage der Zeit, bevor sie dich hoppnehmen.« Dem Jungen kamen vor Scham fast die Tränen. »Ich glaub, er hat recht.« »Paule!«
    Sie fuhren vor dem Haus vor.
    »Ich hasse dich.« Das mit ruhiger flacher Stimme. Er stieg aus dem Wagen. März öffnete seine Tür, lief um den Wagen und folgte ihm auf dem Weg zum Haus. Er konnte im Haus den Hund bellen hören. »Paule!« rief er erneut.
    Die Tür öffnete sich. Klara stand da in der Uniform der SS-Frauenschaft. März sah hinter ihr die braungekleidete Gestalt Helfferichs lauern. Der Hund, ein junger Schäfe r hund, kam her ausgerannt und sprang an Paule hoch, der sich an seiner Mutter vorbeidrängte und im Haus ve r schwand. März wollte ihm folgen,aber Klara versperrte ihm den Weg. »Laß den Jungen zufrieden. Verschwinde. Laß uns alle in Ruhe.« Sie schnappte sich den Hund und zerrte ihn an seinem Halsband zurück. Die Tür knallte in sein Jaulen hinein zu.
    Später, als er nach Berlin-Mitte zurückfuhr, dachte März über den Hund nach. Dabei wurd e ihm klar, daß der Hund die einzige lebende Kreatur in dem ganzen Haus war, die keine Uniform trug.
    Wenn er sich nicht so elend gefühlt hätte, hätte er scha l lend gelacht.

VIER
    »Was für n Scheißtag«, sagte Max Jäger. Es war 19.30 Uhr; am Werderschen Markt zog er sich die Jacke an. »Kein persönlicher Besitz aufgetaucht; keine Kleidung. Ich bin die Vermißtenliste bis Donnerstag zurückgegangen. Nichts. Damit sind über 24 Stunden seit dem vermutlichen Zeitpunkt seines Todes vergangen, und nicht eine Seele hat ihn vermißt. Bist du sicher, der ist nicht nur so n Penner?« März schüttelte kurz den Kopf. »Zu gut ernährt. Und Pe n ner haben keine Badehosen. Normalerweise.«
    »Und zu allem Überfluß«, Max nahm noch einen Zug an seiner Zigarre und drückte sie dann aus, »muß ich heute abend zu einer Parteiversammlung. >Die deutsche Mutter: Kämpferin des Volkes an der Heimatfronn<.«
    Wie alle Kripofahnder, einschließlich März, hatte Jäger den SS-Rang eines Sturmbannführers. Anders als März war er im vergangenen Jahr der Partei beigetreten. Nicht daß März ihm das vorwarf. Man mußte Parteimitglied sein, uni befördert zu werden. »Kommt Hannelore mit?«
    »Hannelore? Trägerin des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter in Bronze? Natürlich kommt sie mit.« Max blickte auf die Uhr. »Gerade noch Zeit für ein Bier. Was meinst du?« »Heute abend nicht, danke. Ich komm mit dir runter.«
    Sie trennten sich auf der Treppe des Kripo-Gebäudes. Mit einem Winken bog Jäger nach links in Richtung auf die Kneipe in der Oberwallstraße ein, während März sich nach rechts dem Fluß zuwandte. Er ging schnell. Der R e gen hatte aufgehört, aber die Luft war noch immer feucht und dunstig. Die Vorkriegsstraßenlampen schimmerten auf dem schwarzen

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