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Vaterland

Vaterland

Titel: Vaterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Sonntag werden in Berlin über hundert Personen vermißt. Es wird Stunden dauern, auch nur die Liste durchzugehen. Und da ich me i nem jungen versprochen habe, mit ihm heute nachmittag auszugehen, wirst du dich damit allein herumschlagen müssen.«
    Er zündete sich eine Zigarette an und beschrieb die Ei n zelheiten: den Ort, den nicht vorhandenen Fuß, seinen Ve r dacht betreffend Jost. Jäger nahm alles mit einer Reihe von Grunzern auf. Er war ein schwabbeliger, schmuddel i ger, massiger Mann, zwei Meter groß, mit plumpen Hä n den und Füßen. Er war fünfzig, fast zehn Jahre älter als März, aber sie teilten sich seit 1959 ein Büro und hatten oft als Mannschaft zusammengearbeitet. Die Kollegen am We r derschen Markt spotteten hinter ihren Rücken über sie: der Fuchs und der Bär. Und vielleicht hatten sie auch was von einem alten Ehepaar an sich, in der Art, wie sie sich zan k ten und dann doch wieder zusammenhielten.
    »Das hier ist die Vermißtenliste « März setzte sich an seinen Schreibtisch und rollte den Ausdruck aus: Namen, Geburtsdaten, Zeit des Verschwindens, Anschrift der I n formanten. Jäger lehnte sich über seine Schulter. Er rauchte stumpfe dicke Zigarren, und seine Uniform stank danach. »Laut dem guten Doktor Eisler starb unser Mann vermu t lich irgendwann nach 6 Uhr gestern abend, also wird ihn wohl niemand vor 7 oder 8 Uhr frühestens vermißt haben. Vielleicht warten sie sogar ab, ob er heute morgen au f taucht. Vielleicht steht er also noch gar nicht auf der Liste. Aber wir müssen auch noch zwei andere Möglichkeiten erwägen, odernicht? Erstens: Er war schon einige Zeit ve r schwunden, bevor e r gestorben ist. Zweitens - und wir wi s sen aus bitterer E r fahrung, daß das nicht unmöglich ist : Eisler hat die T o deszeit zu hoch angesetzt,
    »Der Kerl taugt nicht mal zum Tierarzt«, sagte Jäger.
    März zählte schnell. »Einhundertzwei Namen. Ich würd das Alter von unserem Mann auf sechzig schätzen.« »Sag sicherheitshalber lieber fünfzig. Nach 12 Stunden in der Brühe sieht niemand mehr besonders gut aus.« »Wohl wahr. Also schließen wir jeden auf der Liste aus, der nach 1914 geboren ist. Dann dürften noch rund ein Dutzend ü b rigbleiben. Die Identifizierung könnte nicht leichter sein: Fehlt dem Opa ein Fuß?« März faltete das Blatt, riß es en t zwei und gab die eine Hälfte Jäger. »Welche O r po-Reviere liegen an der Havel?«
    »Nikolassee«, sagte Max. »Wannsee. Kladow. Gatow. Pichelsdorf - aber das ist wohl schon zu weit im Norden.« Während der nächsten halben Stunde rief März eines nach dem anderen an, einschließlich Pichelsdorf, um nachzufr a gen, ob irgendwo Kleidung gefunden worden war oder ob einer der örtlichen Säufer der Beschreibung des Mannes im See entsprach. Nichts. Er wandte seine Aufmerksamkeit seiner Hälfte der Liste zu. Um 11-30 Uhr hatte er jeden in Frage kommenden Namen abgeklärt. Er stand auf und reckte sich. »Herr Niemand.«
    Jäger war mit seinen Anrufen zehn Minuten früher fertig und starrte rauchend aus dem Fenster. »Beliebter junge, was? Läßt selbst dich begehrt aussehn.«
    Er nahm die Zigarre aus dem Mund und zupfte sich T a bakfetzen von der Zunge. »Ich seh mal nach, ob der Dienstraum noch mehr Namen bekommen hat. Überlaß das mir. Viel Spaß mit Paule.«
    Die späte Morgenmesse in der häßlichen Kirche gegenüber dem Kripo-Hauptquartier war gerade vorbei. März stand auf der anderen Seite der Straße und beobachtete den Prie s ter, der in einem schäbigen Regenmantel über seiner So u tane die Kirchentür schloß.
    Religion wurde in Deutschland von Staats wegen behi n dert. März fragte sich, wie viele Gläubige den Spionen der Gestapo getrotzt hatten, um der Messe beizuwohnen. Ein halbes Dutzend? Der Priester ließ den schweren Schlüssel in die Tasche gleiten und wandte sich um. Er sah, wie März ihn anblickte, und schlurfte sofort davon, die Augen ni e dergeschlagen, wie jemand, den man bei einer illegalen Handlung erwischt hatte. März knöpfte seinen Regenma n tel zu und folgte ihm in den schmutzigen Berl i ner Morgen.

DREI
    »Mit dem Bau des Triumphbogens wurde 1946 bego n nen, und die Arbeiten waren rechtzeitig zum Tag der Nation a len Wiedergeburt 1950 vollendet. Die Idee für den Entwurf kam vom Führer selbst und beruht auf Zeichnu n gen, die er während der Kriegsjahre gemacht hat.«
    Die Passagiere in dem Bus auf Stadtrundfahrt - zumi n dest jene, die verstanden - verdauten die Information. Sie erhoben sich von

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