Vaterland
Pflaster. Von der Spree kam der tiefe, durch die Häuser gedämpfte Ton eines Nebelhorns.
Er bog um eine Ecke und wanderte den Fluß entlang und genoß die kalte Nachduft auf seinem Gesicht. Ein Flußkahn tuckerte stromauf, eine einsame Laterne am Bug, hinterm Heck ein Kessel kochenden dunklen Wassers. Davon abg e sehen herrschte Schweigen. Hier gab es keine Autos, keine Menschen. Die Stadt hätte in der Dunkelheit ve r dampft sein können. Er verließ widerstrebend den Fluß und übe r querte den Spittelmarkt zur Seydelstraße. Wenige M i nuten später betrat er die Leichenhalle der Stadt Berlin. Dr. Eislee war nach Hause gegangen. Keine Überraschung. »Ich liebe dich«, atmete eine Frauenstimme in den verlassenen Em p fang, »und ich möchte deine Kinder austragen.« Ein Au f seher in bekleckerter weißer Jacke wandte sich widerstr e bend von seinem tragbaren Fernsehgerät ab und überprüfte März' Ausweis. Er trug eine Notiz in sein Kon t rollbuch ein, nahm einen Schlüsselbund und winkte dem Detektiv, ihm zu folgen. Hinter ihnen erklang die Titelmusik der abendl i chen Familienserie des Reichsrundfunks.
Schwingtüren führten in einen Korridor, der Dutzenden anderen am Werderschen Markt glich. Irgendwo, dachte März, muß es einen Reichsdirektor für grünes Linoleum geben. Er folgte dem Aufseher in einen Aufzug. Das M e tallgitter schloß sich krachend, und sie fuhren in die Keller hinab.
Am Eingang zum Aufbewahrungsraum zündeten sie sich beide unter einem Schild »Rauchen verboten« Zigare t ten an - zwei Profis, die dieselbe Vorbeugemaßnahme tr a fen, nicht gegen den Geruch der Leichen (der Raum war tiefgekühlt: keine Spur von Verwesungsgestank), aber g e gen die stechenden Dünste der Desinfektionsmittel. »Sie wollen den alten Knaben? Der kurz nach 8 reingekommen ist?« »Richtig«, sagte März.
Der Aufseher zog an einem langen Handgriff und schwenkte die schwere Tür auf. Es gab ein Zischen kalter Luft, als sie eintraten. Grelle Neonröhren beleuchteten e i nen Flur aus weißen Kacheln, der sich von beiden Seiten leicht zu einem Abfluß in der Mitte hin senkte. Schwere Metallschubladen waren wie Aktenschränke in die Wände eingelassen. Der Aufseher nahm eine Liste vom Haken neben dem Lichtschalter, ging an ihnen entlang und übe r prüfte die Nummern. »Der hier. «
Er klemmte sich die Liste unter den Arm und zog heftig an der Lade. Sie glitt heraus. März trat hinzu und schlug das weiße Laken zurück.
»Wenn Sie wollen, können Sie gehen«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ich rufe, wenn ich fertig hin, »Ist nicht erlaubt. Vorschriften.« »Für den Fall, daß ich Beweise fr i siere? Ich bitte Sie.«
Auch bei der zweiten Begegnung gewann die Leiche nicht. Ein hartes fleischiges Gesicht, kleine Augen und ein grausamer Mund. Der Schädel war fast kahl, abgesehen von einer merkwürdigen Strähne weißen Haares. Die Nase war scharfrückig mit zwei tiefen Eindellungen an beiden Nasenflügeln. Er mußte seit vielen Jahren Brillen getragen haben. Das Gesicht selbst wies keine Verletzungen auf, außer symmetrischen Kratzern auf beiden Wangen. Er schob die Finger in den Mund, stieß aber nur auf den we i chen Gaumen. Irgendwann mußte das vollständige falsche Gebiß herausgeschlagen worden sein.
März zog das Laken weiter zurück. Die Schultern waren breit, der Rumpf eines kräftigen Mannes, der gerade b e gann, fett zu werden. Er faltete das Laken sauber einige Zentimeter über dem Stumpf zusammen. Er benahm sich Toten gegenüber immer respektvoll. Kein Gesellschaftsarzt am Kurfürstendamm ging mit seinen Patienten zartfühle n der um als Xaver März mit seinen Leichen. Er hauchte Wärme in seine Hände und griff in die Innentasche seines Mantels. Er holte eine schmale Zinnschachtel heraus, die er öffnete, und zwei weiße Karten. Der Zigarettenrauch schmeckte bitter im Mund. Er ergriff das linke Handgelenk der Leiche – so kalt; das erschütterte ihn immer aufs neue - und zwang die Finger auf. Sorgfältig preßte er jede Finge r spitze auf das Kissen mit schwarzer Tinte in der Schachtel. Dann stellte er die Schachtel ab, nahm eine der Karten auf und preßte jeden einzelnen Finger darauf. Nachdem er das zu seiner Zufriedenheit getan hatte, wiederholte er die Pr o zedur mit der rechten Hand des alten Mannes. Der Aufs e her sah ihm fasziniert zu.
Die schwarzen Schmierflecken sahen an den weißen Händen scheußlich aus; eine Entweihung. »Machen Sie ihn bitte sauber«, sagte März.
Das
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