Vaterland
der Suche nach einer Antwort begonnen.
Die Bücher des Vermieters wiesen aus, daß die Wo h nung von 1928 bis 1942 an einen Weiß, Jakob, vermietet gewesen war. Aber die Polizei hatte keinerlei Unterlagen über einen Jakob Weiß. Er war weder als umgezogen noch als erkrankt noch als verstorben verzeichnet. Nachfragen bei den Arch i ven von Heer, Marine und Luftwaffe bestätigten, daß er nicht als Soldat eingezogen worden war. Aus dem Fotoat e lier war ein Geschäft geworden, das Fernsehgeräte vermiet e te, die Geschäftsunterlagen waren ve r schwunden. Niemand von den jungen Leuten im Büro des Vermieters erinnerte sich an die Familie Weiß. Sie war verschwunden. Weiß. Eine Leere. Inzwischen war März klar, daß er die Wahrheit wußte - sie vielleicht immer gewußt hatte -, aber eines Abends ging er dann doch mit dem Foto wie ein Polizist herum und suchte nach Zeugen, und die anderen Bewohner des Wohnblocks hatten ihn anges e hen, als sei er verrückt, auch nur zu fragen. Mit einer Au s nahme.
»Das waren Juden«, hatte die Alte im Dachgeschoß g e sagt, ehe sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug.
Natürlich. Alle Juden waren während des Krieges nach Osten evakuiert worden. Das wußte jeder. Was danach mit ihnen geschehen war, gehörte nicht zu den Fragen, die man in der Öffentlichkeit stellte - und nicht privat, wenn man auch nur einen Funken Verstand hatte, selbst nicht als SS-Sturmbannführer. Und da, das begriff er jetzt, hatte seine B e ziehung zu Paule sich zu verschlechtern b e gonnen; und die Zeit, da er vor Morgengrauen wach zu werden pflegte und jeden Fall freiwillig übernahm, der ihm über den Weg lief.
März stand ein paar Minuten da, ohne das Licht anzum a chen, und blickte hinab auf den Verkehr, der nach Süden zum Wittenbergplatz floß. Dann ging er in die Küche und goß sich einen großen Whisky ein. Die Montagsausgabe des Berliner Tageblatts lag neben der Spüle. Er nahm sie mit ins Wohnzimmer.
März hatte beim Lesen der Zeitung eine bestimmte A n gewohnheit. Er begann hinten, mit der Wahrheit. Wenn es hieß, daß im Fußball Leipzig Köln vier zu null geschlagen habe, war die Wahrscheinlichkeit groß, daß es wahr war: Selbst die Partei müßte erst noch eine Methode erfinden, die Sportergebnisse umzuschreiben. Sportnachrichten wa r en eine andere Sache. COUNTDOWN DER OLYMP I SCHEN SPIELE TOKIO. USA NEHMEN VIE L LEICHT ZUM ERSTEN MAI. SEIT 28 JAHREN TEIL. DEUTSCHE SPORTLER IMMER NOCH WELTWEIT FÜHREND. Dann die Anzeigen. DEUTSCHE FAM I LIEN! VERGNÜGEN WARTET IN GOTENIAND, DER RIVIERA DES REICHES! Französisches Parfum, belg i scher Kaffee, russischer Kaviar, engl i sche Fernseher - das Füllhorn des Reiches ergoß sich über die Seiten. Geburten, Heiraten, Tod: TEBBE, Ernst und Ingrid; ein Sohn für den Führer. WENZEL, Hans, 71 Jahre alt; ein wahrer Nationa l sozialist, schmerzlich vermißt. Und die einsamen He r zen:
FÜNFZIGJÄHRIGER, rein arischer Arzt, Veteran der Schlacht um Moskau, der sich auf dem Land niederlassen will, wünscht sich männliche Nachkommenschaft durch Heirat mit gesunder, arischer, jungfräulicher, junger, b e dürfnisloser, fleißiger Frau, an harte Arbeit gewöhnt; breite Hüften, flache Absätze, keine Ohrringe Voraussetzung.
WITWER, sechzig, wünscht sich erneut nordische L e bensgefährtin, bereit, ihm Kinder zu schenken, damit alte Familie im Mannesstamm nicht ausstirbt.
Die Kunstseiten: Zarah Leander, immer noch umjubelt in Die Frau von Odessa, jetzt im Gloria-Palast: die epische Geschichte der Neuansiedlung der Südtiroler. Ein Artikel des Musikkritikers, der das »gefährliche, negroide Geja u le« einer Viererbande junger Engländer aus Liverpool an g riff, die in Hamburg bei ihren Auftritten Massenanstürme deutscher Jugendlicher auslösten. Herbert von Karajan wird eine Sonderaufführung von Beethovens Neunter - der europäischen Hymne - in der Royal Albert Hall zu London an Führers Geburtstag dirigieren.
Leitartikel über die Antikriegsdemonstrationen der St u denten in Heidelberg. VERRÄTER MÜSSEN MIT G E WALT ZERSCHMETTERT WERDEN! Das Tageblatt bezog immer entschlossen Stellung.
Nachruf: irgendein alter Bonze aus dem Innenminist e rium. »Ein lebenslanger Dienst am Reich ...«
Nachrichten aus de m Reich: FRÜHLINGSSCHMELZE BRINGT NEUE GEFECHTE AN DER SIBIRISCHEN FRONT! DEUTSCHE TRUPPEN ZERSCHMETTERN IWANS TERRORGRUPPEN! In Rowno, der Hauptstadt des Reichskommissariats Ukraine, hatte man 5 Terroriste n führer exekutiert, weil sie die
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