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Vaterland

Vaterland

Titel: Vaterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Hauptquartier der Reichs-Kripo befindet sich am Werderschen Markt, aber die forensischen Laboratorien, Verbrechensregister, Waffenkammern, Gewahrsamszellen liegen im Gebäude des Berliner Polizeipräsidiums am Al e xanderplatz. Zu dieser ausladenden preußischen Bast i on gegenüber der belebtesten U-Bahn-Station der Stadt begab sich März als nächstes. »Sie wollen was?«
    Die Stimme, geschärft durch Ungläubigkeit, gehörte O t to Koth, dem stellvertretenden Leiter der Fingerabdrucka b teilung. »Vorrang«, wiederholte März. Er nahm einen we i teren Zug aus seiner Zigarette. Er kannte Koth gut. Vor zwei Jahren hatten sie eine Bande bewaffneter Einbrecher, die einen Polizeileutnant in Lankwitz ermo r det hatte, in einer Falle gefangen. Koth war daraufhin b e fördert worden. »Ich weiß, das ihr einen Rückstau von hier bis zum 100. Geburtstag des Führers habt. Ich weiß, ihr habt die Sipo wegen Terroristen und Gott weiß was im Nacken. Aber tun Sie das für mich.«
    Koth lehnte sich in seinen Stuhl zurück. In dem Büche r regal hinter ihm konnte März Artur Nebes Buch über die Kriminologie sehen, das vor dreißig Jahren veröffentlich worden war, aber immer noch das Standardwerk war. Nebe war schon seit 1933 Chef der Kripo. »Lassen Sie mich s e hen, was Sie da haben«, sagte Koth. März gab ihm die Ka r ten. Korb sah sie sich an und nickte. »Männlich«, sagte März. »Um die sechzig. Seit einem Tag tot.«
    »Ich weiß, wie er sich fühlt.« Koth setzte die Brille ab und rieb sich die Augen. »Na schön. Ich leg sie ganz oben auf den Haufen.« »Bis wann?«
    »Morgen früh sollte eine Antwort da sein.« Koth setzte die Brille wieder auf. »Was ich nicht verstehe ist, woher wissen Sie, daß dieser Mann, wer immer er war, in der Verbrecherkartei steht.«
    März wußte es nicht, aber er dachte nicht daran, Korb einen Vorwand zu liefern, sich aus seiner Zusage herau s zuwinden. »Glauben Sie mir«, sagte er.
    März war um 11 Uhr in seiner Wohnung zurück. Der a l te Käfiglift war außer Betrieb. Die Treppen mit ihrem a b gewetzten braunen Teppich rochen nach alten Mahlzeiten, nach gekochtem Kohl und angebranntem Fleisch. Als er am zweiten Stockwerk vorüberkam, konnte er das junge Paar, das unter ihm wohnte, sich streiten hören. »Wie kannst du das sagen? « »Du hast nichts gemacht! Übe r haupt nichts! «
    Eine Tür schlug zu. Ein Säugling schrie. In einer and e ren Wohnung drehte jemand als Antwort sein Radio auf volle Lautstärke. Die Symphonie des Lebens in einem Wohnblock. Frühe r war das mal eine vornehme Ge gend gewesen. Jetzt waren darüber wie über viele Bewohner schwerere Zeiten gekommen. Er stieg bis zum nächsten Stock hoch und schloß seine Wohnung auf. Es war kalt, da die Heizung wie üblich nicht ging. Er hatte fünf Zimmer: ein Wohnzimmer mit einer schönen hohen Decke zur An s bacher Straße; ein Schlafzimmer mit einem eisernen Bett; ein kleines Badezimmer und eine noch kleinere Küche; ein Nebenraum war mit den Überbleibseln seiner Ehe vollge s topft, nach fünf Jahren immer noch in Kartons verpackt. Zu Hause. Sie war größer als die 44 Quadratmeter, die ü b liche Größe einer Volkswohnung, aber nicht viel.
    Bevor März einzog, gehörte die Wohnung der Witwe e i nes Luftwaffengenerals. Sie hatte in ihr seit dem Krieg g e wohnt und sie verkommen lassen. Als er während seines zweiten Wochenendes das Schlafzimmer neu tapezieren wollte und die angemoderte Tapete herunterriß, hatte er dahinter ein ganz klein zusammengefaltetes Foto gefunden. Ein Sepiaporträt, in bräunlichen und cremefarbenen T ö nen, datiert 1929, aufgenommen in einem Berliner Fotoat e lier. Eine Familie stand vor einem gemalten Hintergrund von Bäumen und Feldern. Eine dunkelhaarige Frau blickte auf einen Säugling in ihren Armen. Ihr Ehemann stand stolz hinter ihr, die Hand auf ihrer Schulter. Neben ihm ein kle i ner Junge. Seithe r stand es bei ihm auf dem Kami n sims. Der Junge war in Paules Alter und würde heute in März' Alter sein. Wer waren diese Leute? Was war aus dem Kind geworden? Seit Jahren fragte er sich das, hatte aber immer gezögert - er hatte am Werderschen Markt stets ausre i chend Anspannung für seinen Geist, ohne daß er neue G e heimnisse zu enträtseln suchte. Dann hatte er u n mittelbar vor letzter Weihnacht aus keinem Grund, den er hätte pr ä zis bezeichnen können - aus einer vagen und wachsenden Unbehaglichkeit, die zufälligerweise mit seinem Geburt s tag zusammenfiel, nicht mehr-, mit

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