Vaterland
der so langsam wie ein kaum mehr wahrnehmbares Kri e chen – erschien über ihm eine weiße Jacke. Ein Blitzen von Stahl. Eine dünne Klinge erschien vertikal vor seinen A u gen. März versuchte wegzukriechen, aber Finger schlossen sich um sein Gelenk, und die Nadel wurde in eine Vene gestoßen. Zuerst brüllte er auf, als man seine Hand berüh r te, aber dann spürte er, wie sich die Flüssigkeit durch seine Adern ergoß, und die Agonie schwand.
Der Folterarzt war alt und bucklig, und März, der vor Dankbarkeit für ihn überströmte, hatte den Eindruck, daß er schon seit vielen Jahren in diesen Kellern lebte. Der Ruß hatte sich in seinen Poren festgesetzt, und die Dunkelheit hing in Beuteln unter seinen Augen. Er redete nicht. Er säuberte die Wunde, bestrich sie mit einer klaren Flüssi g keit, die nach Krankenhäusern und Leichenhallen roch, und umwickelte sie fest mit einem weißen Gazeverband. Dann half er, immer noch ohne zu reden, gemeinsam mit Krebs März auf die Beine. Sie setzten ihn auf einen Stuhl. Ein Emailbecher mit süßem Milchkaffee wurde auf den Tisch vor ihn gestellt. Eine Zigarette wurde ihm in die gesunde Hand geschoben.
VIER
März hatte in seinem Geist eine Mauer errichtet. Dahi n ter hatte er Charlie in ihrem dahinschießenden Auto g e setzt. Es war eine hohe Mauer, aus allem errichtet, was seine Einbildungskraft nur auftreiben konnte - aus Pflasterste i nen und Betonblöcken, aus ausgebrannten eisernen Bettgeste l len, umgestürzten Straßenbahnwagen, Koffern und Ki n derwagen -, und sie erstreckte sich nach beiden Seiten durch die sonnenbeglänzten deutschen Landschaften, wie die Große Mauer in China auf einer Ansichtskarte. Vor ihr patrouillierte er. Über die Mauer würde er sie nicht lassen. Alles andere konnten sie haben.
Krebs las März' Notizen. Er saß da, beide Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, das Kinn auf den Knöcheln. Ab und zu löste er eine Hand, wendete eine Seite um, legte sie wieder an, fuhr fort zu lesen. März beobachtete ihn. Nach dem Kaffee und der Zigarette und der Dämpfung seiner Schmerzen fühlte er sich fast hochgestimmt. Krebs hatte geendet und schloß für einen Augenblick die Augen.
Sein Teint war weiß wie üblich. Dann richtete er die Se i ten aus und legte sie vor sich hin, neben März' Noti z buch und Bühlers Kalender. Er richtete sie millimetergenau aus zu einer Linie von Paradegenauigkeit. Vielleicht war es die Wirkung der Drogen, aber plötzlich sah März alles so klar - wie die Tinte auf dem billigen Papier leicht ausg e laufen war und wie jedem Buchstaben winzige Härchen sprossen; wie schlecht Krebs sich rasiert hatte: und das Wäldchen schwarzer Stoppeln in der Hautfalte unter seiner Nase. In dem Schweigen glaubte er wirklich, er könne den Staub fallen und auf den Tisch prasseln hören. »Haben Sie mich erledigt, März?« »Sie erledigt?«
»Mit dem da« Krebs' Hand schwebte einen Zentimeter über den Notizen. »Es hängt davon ab, wer weiß, daß Sie sie haben.«
»Nur ein Kretin von Unterscharführer, der in der Garage arbeitet. Er hat sie gefunden, als wir Ihren Wagen rein b rachten. Er hat sie sofort mir gegeben. Globus weiß nichts davon - noch nicht.« »Dann haben Sie ja Ihre Antwort.«
Krebs begann, sich heftig das Gesicht zu reiben, als wo l le er sich abtrocknen. Er hielt inne, preßte die Hände gegen seine Wangen und starrte März durch die gespreizten Fi n ger an. »Was geht hier vor?« »Sie können doch l e sen.«
»Ich kann lesen, aber ich verstehe es nicht.« Krebs griff nach den Seiten und blätterte sie durch. »Hier zum Beispiel - was ist >Zyklon B«
»Kristallisiertes Hydrogencyanid. Davor haben sie Ko h lenmonoxyd verwandelt. Und davor Kugeln.« »Und hier - >Auschwitz/Birkenau<. >Kulmhof<. >Belzec<. >Trebli n ka<, >Majdanek<. >Sobibor<.«
»Die Schlachthöfe...«
»Diese Zahlen: 8000 pro Tag ...«
»Das ist die Gesamtmenge, die sie in Au s chwitz/Birkenau unter Einsatz der 4 Gaskammern und Krematorien vernichten konnten .«
»Und diese >11 Millionen«
»11 Millionen ist die Gesamtzahl europäischer Juden, hinter denen sie her waren. Vielleicht haben sie Erfolg g e habt. Wer weiß das?
Aber ich sehe kaum noch welche, Sie etwa?«
»Hier. der Name >Globocznik< ...«
»Globus war SS- und Polizeiführer in Lublin. Er hat die Tötungszentren aufgebaut.«
»Das habe ich nicht gewußt.« Krebs ließ die Notizen auf den Tisch fallen, als ob sie ansteckend wären. »Ich habe von all dem nicht s
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