Vatermord und andere Familienvergnuegen
halb gepackten Koffer und sah nebelhaft verschwommen unschöne Kindheitserinnerungen an mir vorbeidefilieren. Ich war wieder genau dort, wo ich angefangen hatte! Das war das Schmerzlichste daran, wieder krank zu sein - begreifen zu müssen, dass ich mich im Kreis gedreht hatte, und ich konnte nur noch daran denken, dass ich die fahre, in denen ich bei guter Gesundheit gewesen war, damit vertan hatte, Trübsal zu blasen, anstatt den Everest zu erklimmen.
Meine Mutter trug einen Armvoll Bücher ins Zimmer und begann wieder, mir daraus vorzulesen, ganz so wie in alten Tagen.
Selbst halb tot, saß sie im trüben Licht der Lampe da und las vor, schon das erste Buch eine Wahl, die nichts Gutes verhieß: Der Mann in der eisernen Maske. In meinem Tran konnte ich mir unschwer vorstellen, wie mein eigener armer Kopf von so einem metallischen Apparat umschlossen wurde. Sie las von morgens bis abends, und bald schlief sie auch in Terrys altem Bett neben meinem, sodass wir praktisch kaum einen Moment voneinander getrennt waren.
Sie kam oft auf ihre frühen Jahre in Shanghai zu sprechen, als sie noch nicht mit mir schwanger ging, sondern mit großen Zukunftsplänen. Sie sprach häufig von Vater Nummer eins und erinnerte sich an Momente der Intimität mit ihm, etwa wenn er ihr übers Haar strich und ihren Namen aussprach, als sei er etwas Geheiligtes. Das war die einzige Zeit gewesen, in der ihr der Klang des eigenen Namens gefallen hatte. Sie sagte, meine Stimme klinge ganz ähnlich, und eines Abends bat sie mich, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen. Das war mir äußerst unangenehm, denn ich war bereits mit den Schriften Freuds vertraut, aber ich tat es ihr zuliebe. Dann begann sie, sich an meinem Bett grässliche Geständnisse von der Seele zu reden:
»Ich habe das Gefühl, ich habe irgendwann den falschen Weg eingeschlagen und bin ihn so weit gegangen, dass ich nicht die Energie hatte, noch einmal kehrtzumachen. Bitte merk dir eins, Martin: Es ist nie zu spät kehrtzumachen, wenn du den falschen Weg eingeschlagen hast. Selbst wenn du ein Jahrzehnt dafür brauchst, musst du es tun. Bleib nicht stehen, nur weil der Weg zurück zu lang oder zu finster erscheint. Hab keine Angst davor, mit nichts dazustehen.«
Oder dieses: »Ich bin deinem Vater diese ganzen langen Jahre treu geblieben, obwohl ich ihn nicht liebe. Heute weiß ich, dass ich besser hätte herumficken sollen. Lass dir nie von Moralvorstellungen das Leben verbauen. Terry hat diese Männer umgebracht, weil es das war, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Wenn du betrügen musst, betrüge. Wenn du töten musst, töte.«
Oder dies: »Ich habe deinen Vater aus Angst geheiratet. Ich bin aus Angst bei ihm geblieben. Angst hat mein ganzes Leben bestimmt. Ich bin keine mutige Frau. Es ist nicht schön, wenn man das Ende seines Lebens erreicht und entdecken muss, dass man feige ist.«
Ich wusste nie, was ich erwidern sollte, wenn meine Mutter derart ihr Herz ausschüttete. Ich lächelte nur in ihr Gesicht, das einst ein so gehegter, gepflegter Garten gewesen war, und tätschelte, nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, ihre knochigen Hände, denn es ist peinlich, zuzusehen, wie jemand am Ende seines Lebens Resümee zieht und erkennt, dass er nichts mit hinüber in den Tod nehmen kann als die Scham darüber, es nur halb gelebt zu haben.
An einem dieser Tage stellte ich mir vor, nach einem langen und teuren Prozess vor meiner Exekution zu stehen. Ich dachte: An einem klaren Tag kann man mich sterben sehen. Ich dachte auch an Caroline, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde, dass sie nie das Ausmaß und die Tiefe meiner Gefühle für sie verstehen würde. Ich dachte daran, dass ich als Jungfrau sterben würde. Verdammt. Ich atmete tief durch. In der Luft hing ein widerlicher, ekliger Geruch. Er kam von mir.
Träumte ich? Ich hatte sie nicht hereinkommen hören. Über mir standen zwei Männer in braunen Anzügen, die Jacketts ausgezogen, die Hemdsärmel aufgerollt. Schweiß rann ihnen in die Augen. Einer von ihnen hatte ein derart vorspringendes Kinn, dass ich nicht wusste, ob ich ihm die Hand oder das Kinn schütteln sollte. Der andere hatte kleine Augen in einem kleinen Kopf und eine kleine Nase, die über einem kleinen Mund saß, dessen Lippen so dünn waren, dass sie aussahen wie mit einem Bleistift in Stärke 2 B gezogen.
»Wir würden Sie gerne einmal sprechen, Mr. Dean«, sagte das Kinn, und dieser Satz war bemerkenswert, weil ich hier zum ersten Mal im
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