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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Minuten werde schon wieder alles in Ordnung bringen.
    Aber das war erst der Anfang gewesen.
    Am nächsten Morgen war ich immer noch krank. Irgendeine bizarre Krankheit mit kräftezehrenden Magenkrämpfen, Erbrechen und anschließendem Fieber hatte mich plötzlich gefällt. Zuerst vermutete man eine Virusgrippe, aber meine Mutter und ich machten uns Sorgen: Ich hatte genau die Symptome, die ich auch als Kind gehabt hatte, dieselben, die damals in die schwarze Umarmung des schrecklichen Komas geführt hatten. Wieder einmal war ich ans Bett gefesselt, und ich fürchtete, dass mein kurz aufflackerndes Licht bereits frühzeitig zu erlöschen begann, daher schiss ich mir jedes Mal, wenn ich mir von den Magenkrämpfen in die Hose schiss, zugleich auch vor Angst in die Hose. Es gab nichts zu beschönigen: Krankheit und Angst machten mich inkontinent. Während ich dort im Bett lag, wurde mir klar, dass Krankheit unser normaler Daseinszustand ist. Wir sind immer krank, wir wissen es nur nicht. Was wir unter Gesundheit verstehen, ist nur die Phase, in der wir unseren permanent voranschreitenden körperlichen Verfall nicht bemerken.
    Versteh mich richtig, ich glaube nicht an die Theorie, dass alle Krankheiten in unserem Kopf entstehen. Jedes Mal, wenn jemand mir erzählen will, alle Krankheiten kämen von »negativem Denken«, denke ich einen der hässlichsten, hartherzigsten und wütendsten Gedanken aus meinem Repertoire an hässlichen, hartherzigen und wütenden Gedanken. Ich denke: Ich hoffe, ich sehe dich auf der Beerdigung deines Kindes wieder, wo du mir dann erklären kannst, wie deine sechsjährige Tochter ihre Leukämie selbst herbeigeführt hat. Wie gesagt, nicht sehr nett, aber speziell diese Theorie macht mich echt wütend. Altersschwäche gibt es für ihre Anhänger nicht. Sie glauben, dass Fleisch zu Staub wird, weil es deprimiert ist.
    Das Dumme bei den Menschen ist, dass sie so in ihre Überzeugungen verliebt sind, dass ihre Aha-Erlebnisse absolut und allumfassend sein müssen. Sie können die Möglichkeit nicht akzeptieren, dass ihre Wahrheiten womöglich nur ein Körnchen Wahrheit enthalten. Daraus folgt, dass es durchaus möglich sein kann, dass bestimmte Krankheiten im Kopf entstehen, und da die Verzweiflung einen Menschen noch verzweifelter macht, war sogar ich bereit, eine übernatürliche Ursache für meine zerrüttete Gesundheit in Betracht zu ziehen.
    Wenn man siech darniederliegt, findet man in der Selbstdiagnose eine gewisse Erleichterung: Sie gibt einem die Illusion von Handlungsfähigkeit zurück. Doch wenn man von den komplizierten Zusammenhängen im menschlichen Körper ungefähr so viel versteht wie von Düsenmotoren, muss man einfallsreich sein. Zuerst erwog ich schlicht die gute, alte Angst. Aber abgesehen von der mittlerweile erschöpften Sorge um meine Mutter und dem beunruhigenden Gefühl, eventuell Gegenstand einer polizeilichen Ermittlung zu werden, hatte ich eigentlich keine besonderen Befürchtungen. Ehrlich gesagt, war es mir sogar eine ungeheure Erleichterung gewesen, dass hinter Terry eine Zellentür zugefallen war. Für mich bedeutete diese Zellentür, dass die Tage des Sich-Sorgen-Machens vorbei waren. Ich war froh, dass er eingesperrt war.
    Die nächste Stufe der Selbstbefragung führte mich zu den spirituellen Dingen. Ich überlegte Folgendes: Ich hatte den Eid brechen wollen, den ich meiner Mutter geschworen hatte, und wenn dies die Ursache meiner Krankheit sein sollte, konnte ich zwischen einem psychologischen und einem übernatürlichen Grund wählen. Vielleicht hatte ich mich unbewusst deswegen selbst krank gemacht. Mein Körper revoltierte gegen diesen Akt des Verrats. Oder, das wäre dann übersinnlich, die Verbindung zu meiner Mutter war so stark, dass unser Bund mich dazu verdammte, den Schwur einzuhalten. Vielleicht war ich dem Fluch einer polnischen Mutter erlegen, ohne davon zu wissen.
    Wie auch immer, ich war ernstlich krank. Nenn irgendein Symptom, ich hatte es: Erbrechen, Durchfall, Magenkrämpfe, Fieber, Schwindel, Atemnot, Sehstörungen, Gelenk- und Muskelschmerzen, wunde Zehen, Zähneklappern, belegte Zunge. Mir lief kein Blut aus den Augen, aber sonst hatte ich praktisch alles, und ich zweifelte nicht daran, dass das mit dem Blut auch noch kommen würde. Ich war so schwach, dass ich nicht aufstehen und aufs Klo gehen konnte. Neben meinem Bett standen zwei weiße Schüsseln, eine für Erbrochenes, eine für Pisse und Scheiße. Ich lag benommen da, betrachtete meinen

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