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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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erschien mir ratsam, mich als potenzielles Opfer vom Schauplatz des Verbrechens zu entfernen. Ja, jetzt war der Moment gekommen, die Theorie, dass Menschen in lebensbedrohlichen Situationen übermenschliche Kräfte entwickeln, auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen. Da mein Körper mir nicht weiterhalf, setzte ich ganz auf meinen Überlebenswillen, um diesem Familiendrama von shakespearschen Ausmaßen zu entrinnen. Ich schwang die Beine aus dem Bett und stand auf, wobei ich mich auf dem Nachttischchen abstützte. Mein Magen krampfte sich fürchterlich zusammen, und ich wand und krümmte mich vor Schmerzen. Ich wankte zu meinem Koffer und stellte fest, dass er noch immer fertig gepackt dalag. Mühsam stieg ich in meine Schuhe und ging unter großen Anstrengungen los: Wenn man längere Zeit kein Schuhwerk getragen hat, fühlen sich selbst Sandalen so schwer wie Betonklötze an. Bemüht, mich lautlos davonzumachen, schlich ich über den Flur. Ich konnte streitende Stimmen aus dem Wohnzimmer hören. Beide schrien sich an, meine Mutter weinte. Ich hörte Glas klirren. Sie prügelten sich richtiggehend. Vielleicht hatte meine Mutter ihm seinen Mordplan vorgehalten! An der Haustür stellte ich den Koffer ab und steuerte auf die Küche zu. Was blieb mir anderes übrig? Ich konnte meine Mutter nicht in den Händen meines psychotischen Vaters zurücklassen. Es war klar, was ich zu tun hatte. Ich musste meinen (Stief-) Vater töten.
    Ich kann dir sagen, ich hab schon länger dazu gebraucht, etwas von einer Speisekarte auszusuchen, als ich für die Entscheidung brauchte, den Kerl umzubringen. Und als jemand, der immer mit dem Charakterfehler Unentschlossenheit zu kämpfen hatte - angefangen von dem Moment, da meine Mutter mir die nackten Spitzen zweier milchgefüllter Brüste hinhob und mich aufforderte: »Such dir eine aus« -, stellte ich fest, dass es mich mit einem höchst angenehmen Allmachtsgefühl erfüllte, eine rasche Entscheidung zu treffen, so schrecklich sie auch war.
    In der Küche griff ich mir das Tranchiermesser. Es roch nach Zwiebeln. Durch einen Riss in der Türfüllung konnte ich sehen, wie meine Eltern miteinander rangen. Sie waren wirklich wie entfesselt. Er hatte meine Mutter zuvor schon oft geschlagen, immer nachts in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer, aber nicht mehr, seit er wusste, dass sie Krebs hatte. Meine Mutter riss und zerrte an ihm, so gut sie es in ihrem halb toten Zustand konnte, und er schlug sie dafür so heftig mit dem Handrücken, dass sie zu Boden stürzte.
    Mit bereits schwindender Kraft platzte ich auf unsicheren Beinen ins Zimmer, das Messer hielt ich aber weiter fest umklammert. Sie sahen mich - zuerst meine Mutter, dann mein Vater -, schenkten dem Messer in meiner Hand jedoch keine Beachtung. Ich hätte genauso gut eine Feder halten können, sie waren einfach zu tief in ihrem persönlichen Albtraum gefangen.
    »Martin! Weg hier!«, heulte meine Mutter.
    Bei meinem Anblick geschah mit dem Gesicht meines Vaters etwas, das ich noch nie zuvor bei einem Gesicht gesehen hatte. Es zog sich auf die Hälfte seiner normalen Größe zusammen. Er sah wieder meine Mutter an, schnappte sich einen Stuhl und zertrümmerte ihn am Boden, sodass die Einzelteile um sie herum liegen blieben.
    »Lass sie zufrieden!«, schrie ich. Meine Stimme kiekste und flatterte gleichzeitig.
    »Martin...«, sagte er in einem seltsamen Ton.
    Meine Mutter schluchzte hysterisch.
    »Ich sagte, lass sie zufrieden!«, wiederholte ich.
    Dann sagte er mit einer Stimme wie ein Granateneinschlag: »Deine verdammte verrückte Mutter hat Rattengift in dein Essen getan!«
    Ich stand da, zu Stein erstarrt.
    »Du warst das«, sagte ich.
    Er schüttelte nur traurig den Kopf.
    Ich wandte mich verwirrt meiner Mutter zu, die sich die Hand vors Gesicht hielt: Tränen liefen ihr über die Wangen, ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt. Ich wusste sofort, dass es stimmte.
    »Warum?«, stieß mein Vater hervor und boxte neben ihr gegen die Wand. Sie schrie auf. Er sah mich an, zärtlich und verstört zugleich, und schluchzte: »Warum, Martin?«
    Meine Mutter zitterte. Ihre freie Hand umklammerte Die drei Musketiere von Alexandre Dumas. Das war das nächste Buch, das sie mir hatte vorlesen wollen. »Damit sie sich um mich kümmern konnte«, sagte ich fast unhörbar.
    Er sah mich verständnislos an. Er begriff es nicht. Er begriff nicht das Geringste.
    »Es tut mir leid, mein Junge«, sagte er, es war das erste Mal, dass er

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