Vatermord und andere Familienvergnuegen
der Welt gilt: Wenn du es auf dich nimmst, zweiundzwanzig Jahre deines Lebens darin zu verbringen, solltest du wenigstens alles mal ausprobieren. Das Problem war nur, dass mir in sämtlichen Fahrgeräten übel wurde. Was sollte ich da machen?
Dann fiel mir ein, dass ich ja immer noch Terry in einem Pappkarton mit mir rumtrug.
Ich hatte auf keinen Fall vor, mir lange das Gehirn zu zermartern, was ich mit der Asche meines geschrumpften Bruders anstellen sollte: Ich wollte sie einfach loswerden, schnell, heimlich und ohne große Zeremonie. Würde mir ein Kind auf der Straße begegnen, würde ich ihm einfach den Karton in die Hand drücken. Wenn ich irgendwo eine geeignete Fensterbank sähe, würde ich ihn draufstellen. In diese Richtung dachte ich weiter, bis mich die Vorstellung von Asche an sich so faszinierte, dass ich Durst bekam.
Als ich eine Tankstelle mit Verkaufsshop sah, ging ich hinein. Der Kühlschrank stand ganz hinten. Ich lief den Gang entlang und holte mir eine Cola. Als ich mich wieder umdrehte, sah ich neben mir ein Regal voller Gläschen mit indischen Gewürzen, Cayennepfeffer und italienischen Kräutermischungen. Dem Ladenbetreiber war die Sicht verdeckt, und so öffnete ich diese Gläser eins nach dem anderen und leerte die Hälfte ihres Inhalts auf den Boden. Dann füllte ich Terrys Asche lässig in die Gläser um, wobei ich mir einen guten Teil von ihm auf die Füße kippte, sodass ich, als ich fertig war, den Laden mit meinem Bruder auf den Schuhen verließ. Und dann - dieses Bild werde ich nie vergessen - wischte ich mir meinen Bruder mit der bloßen Hand von den Schuhen und gab ihm den Rest, indem ich mir in einer Pfütze die Hände wusch. So trieb der letzte Überrest meines Bruders in einer flachen Pfütze Regenwasser am Straßenrand. Schon komisch.
Die Leute haben mich immer gefragt: »Wie war Terry Dean denn eigentlich so als Kind?«, aber keiner hat je die viel angemessenere Frage gestellt: Wie war er denn so als Pfütze?
Die Antwort: regungslos, kupferfarben und überraschend glanzlos.
DAS ENDE!
Aus dem Fenster konnte ich den rosa Morgenhimmel sehen, der über dem Hof stand und wahrscheinlich noch darüber hinausreichte, mindestens bis zum Eckladen. Die Frühvögel, denen das Konzept des Ausschlafens fremd war, zwitscherten ihr übliches Sonnenaufgangsgezwitscher. Dad und ich saßen schweigend da. Siebzehn Stunden lang zu reden und dabei nahezu jede Minute seiner ersten zweiundzwanzig Lebensjahre zu behandeln, hatte ihn erschöpft. Zuzuhören hatte bei mir das Gleiche bewirkt. Ich weiß nicht, wer von uns beiden kaputter war. Plötzlich hellte sich Dads Miene auf, und er sagte: »He, weißt du, was?« »Was?«
»Das Blut ist getrocknet!«
Blut? Was für ein Blut? Oh, richtig - ich war ja verprügelt worden. Ich war von meinen Altersgenossen bewusstlos geschlagen worden. Ich fasste mir ins Gesicht. Tatsächlich, auf meiner Unterlippe war eine harte, krustige Substanz. Ich rannte zum Badezimmerspiegel. Wow! Ja, während Dads langer Erzählung war das Blut in meinem Gesicht schwarz und knubbelig geworden. Ich sah wüst aus. Ich grinste - zum ersten Mal seit langer Zeit, lange bevor die Geschichte begonnen hatte.
»Soll ich ein Foto von dir machen, ehe du das Blut abwäschst?«, rief Dad aus meinem Zimmer.
»Nee, wo das herkommt, gibt's noch jede Menge mehr Blut.«
»Nur zu wahr.«
Ich nahm den Zipfel eines Handtuchs, hielt ihn unter heißes Wasser und tupfte das verkrustete Blut ab. Während ich mein Gesicht reinigte, dachte ich über Dads Geschichte nach: die Geschichte von Terry Dean. Mir kam es vor, als hätte ich über Onkel Terry weniger erfahren, als man nach einem siebzehnstündigen Monolog erwarten könnte, dafür aber sehr viel über meinen Vater.
Ich hatte das ungute Gefühl, dass möglicherweise jedes Wort davon wahr war. Er glaubte sicherlich daran. Es hat etwas Verstörendes an sich, wenn ein zweiunddreißigjähriger Mann seine zweiunddreißigjährige Seele einem Kind in den Mund legt, auch wenn dieses Kind er selbst war. War mein Vater ein achtjähriger Anarchist? Ein neunjähriger Misanthrop? Oder war der Junge in der Geschichte eine unbewusste Neuerfindung, versuchte da ein Mann mit der Lebenserfahrung eines Erwachsenen, Sinn in seine Kindheit zu bringen, und radierte dabei die Gedanken und Ansichten, die er damals tatsächlich hatte, aus? Wer weiß? Schließlich ist die Erinnerung das Einzige auf der Welt, das wir wirklich so manipulieren können, wie es uns
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