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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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geschäftlichen Gründen, zum Vergnügen, aus Ruhelosigkeit, um Völkermorde zu begehen oder als Mutprobe. Eddie war kategorisch unkonkret - er wäre zum Beispiel niemals so weit gegangen, einem zu erzählen, dass er Verwandte in der thailändischen Provinz Chiang Mai besucht hatte, hätte aber, wenn man ihn bedrängte, vielleicht zugegeben, »in Asien« gewesen zu sein.
    Ich wartete sechs Monate, bis Eddie wieder auftauchte. In dieser Zeit bereitete ich eine Liste mit Fragen vor und spielte das Gespräch mit ihm im Kopf immer wieder durch, seine Antworten mit eingeschlossen. Ich erwartete - fälschlicherweise, wie sich herausstellte - eine heiße Liebesgeschichte, in der sich meine engelsgleiche Mutter wie in einem Romeo-und-Julia-Szenario in eine Märtyrerin verwandelte. Ich stellte mir vor, dass die unglücklichen Liebenden einen romantisch-tragischen Selbstmordpakt geschlossen hatten, aus dem Dad in letzter Minute ausgestiegen war.
    Dann stand ich eines Morgens im Bad und putzte mir bei zugezogenen Vorhängen die Zähne, als ich hörte, wie Eddies süßliche Stimme nach mir rief: »Marty? Bist du da? Spreche ich mit einer leeren Wohnung?«
    Ich rannte ins Wohnzimmer.
    »Da ist er ja«, sagte Eddie, nahm, wie immer, bevor ich »Bitte nicht« sagen konnte, die Nikon, die an seinem Hals baumelte, und machte ein Foto von mir.
    Eddie war ein Fotonarr und hielt es keine fünf Minuten ohne seine Kamera aus. Er war ein grandioser Multitasker: Ein Auge vor dem Sucher seiner Nikon, konnte er zugleich eine Zigarette rauchen, uns fotografieren und sich die Haare glatt streichen. Zwar behauptete er, ich sei ein dankbares Motiv, doch überprüfen konnte ich das nicht - seine Aufnahmen zeigte er uns nie. Ich weiß nicht, ob er sie je entwickelte oder ob er überhaupt einen Film in der Kamera hatte - wiederum ein Beispiel seiner pathologischen Rätselhaftigkeit. Eddie sprach nie von sich selbst. Sagte nie etwas darüber, was er so trieb. Man wusste nicht einmal, ob er überhaupt was trieb. Er war die Reserviertheit in Person.
    »Wie geht's deinem Dad? Immer noch in alter Frische, oder?«
    »Eddie, hast du meine Mutter gekannt?«
    »Astrid? Klar hab ich sie gekannt. Schade um sie, oder?«
    »Ich weiß nicht. Wirklich?«
    »Wie meinst du das?«
    »Erzähl mir von ihr.«
    »Na gut.«
    Eddie ließ sich aufs Sofa fallen und klopfte auf den Platz neben sich. Ich hüpfte begeistert auf das Polster, nichtsahnend, wie unbefriedigend unser Gespräch verlaufen würde: Über meiner erwartungsfrohen Vorbereitung hatte ich völlig vergessen, dass Eddie der schlechteste Geschichtenerzähler der Welt war.
    »Ich lernte sie in Paris kennen, zusammen mit deinem Vater«, begann er. »Ich glaube, es war im Herbst, denn die Blätter waren braun. Ich finde ja die amerikanische Bezeichnung für Herbst, >fall<, richtig schön. Ich persönlich mag ja den Herbst, oder >the fall<, wie sie dort sagen, aber auch das Frühjahr. Den Sommer ertrage ich nur die ersten drei Tage, dann sehe ich mich nach einer Gefriertruhe um, in der ich mich verstecken kann.«
    »Eddie...«
    »Oh. Tut mir leid. Da bin ich wohl abgeschweift, was? Ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen, was ich vom Winter halte.« »Meine Mutter.«
    »Stimmt. Deine Mutter. Sie war eine schöne Frau. Ich glaube nicht, dass sie Französin war, aber sie hatte so eine Figur. Französische Frauen sind klein und schlank, mit ziemlich kleinen Brüsten. Wenn du große Brüste willst, musst du über die Grenze in die Schweiz.«
    »Dad hat gesagt, ihr habt meine Mutter in Paris kennengelernt.«
    »Das stimmt. Es war in Paris. Ich vermisse Paris. Weißt du, dass sie in Frankreich ein ganz anderes Wort dafür haben, wenn sie etwas scheußlich finden? Man kann da nicht einfach >Würg!< sagen, da versteht keiner, was du meinst. Man muss >Berk!< sagen. Schon verrückt. Das Gleiche, wenn man sich weh tut. Es heißt >Aie!<, nicht >Au!<«
    »Was hat mein Dad in Paris gemacht?«
    »Er hat damals nichts gemacht, so wie er heute auch nichts macht, nur eben auf Französisch. Na gut, eigentlich hat er doch was gemacht. Er hat ständig was in sein kleines grünes Notizbuch gekritzelt.«
    »Dads Notizbücher sind alle schwarz. Er nimmt immer die Gleichen.«
    »Nein, das damals war definitiv grün. Ich sehe es direkt vor mir. Es ist zu schade, dass du nicht die Bilder sehen kannst, die ich gerade vor meinem inneren Auge habe. Sie sind so deutlich und lebhaft. Ich wollte, wir könnten sie auf eine Leinwand projizieren und

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