Vatermord und andere Familienvergnuegen
meinst du das, sie ist da nicht drin?« »Sie ist hier nicht beerdigt.« »Was meinst du damit?«
»Ich meine, ein Sarg ist schon da. Aber der ist leer.« »Ein leerer Sarg?«
»Und willst du wissen, was das Schlimmste daran ist? Das kostet das Gleiche, als ob wirklich eine Leiche drin wäre! Ich hatte geglaubt, es ginge nach Gewicht, aber das war offenbar ein Irrtum.«
Ich starrte fassungslos in sein freudloses Gesicht. Kopfschüttelnd trauerte er dem Geld nach. »O Scheiße! Wo ist meine Mutter?«
Dad erklärte mir, sie sei in Europa gestorben. Viel mehr wollte er nicht sagen. Er hatte die Grabstelle mir zuliebe erworben, aus der Überlegung heraus, dass ein kleiner Junge Anspruch daraufhabe, in angemessener Szenerie um seine Mutter trauern zu können. Wo sonst hätte er das tun sollen? Im Kino?
Wenn wir früher gelegentlich auf sie zu sprechen kamen, hatte Dad mir nie etwas von ihr erzählt, nur dass sie tot war und dass die Toten einem nichts zu essen machen können. Es will mir heute kaum in den Kopf, wie sehr ich damals meine Neugier verdrängte. Weil Dad nicht darüber reden wollte, hatte er mir vermutlich suggeriert, es sei taktlos, im Leben eines Verstorbenen herumzustöbern. Meine Mutter war ein Thema, das er weggeschlossen hatte, nach dem nicht gefragt werden durfte. Und ich hatte es schlichtweg hingenommen, dass man unter keinen Umständen fragte, was einen Menschen zerstört hat, der unzerstörbar gewesen sein sollte.
Aber nun, mit der Erkenntnis, dass ich die ganze Zeit vor einem leeren Loch getrauert hatte, mutierte mein Zorn schlagartig zu brennender Neugier. Auf dem Rückweg vom Friedhof erklärte ich ihm, wenn ich mit neun Jahren alt genug zum Trauern sei, sei ich auch alt genug, etwas über sie zu erfahren.
»Sie war eben so eine Frau, mit der ich eine Weile zusammen war«, sagte er.
»Eben so eine Frau? Wart ihr denn nicht verheiratet?«
»Ach, du lieber Himmel, nein. Ich mache einen weiten Bogen um jeden Altar.«
»Tja, aber, hast du sie, na ja, geliebt?«
»Ich weiß nicht, wie ich dir diese Frage beantworten soll, Jasper. Wirklich nicht.« »Versuch es.« »Nein.«
Später am Abend hörte ich ein Hämmern und ging ins Badezimmer, wo Dad Vorhänge vor dem Badezimmerspiegel anbrachte. »Was soll das?«
»Du wirst mir eines Tages noch dankbar dafür sein«, meinte er. »Erzähl mir einfach von ihr, Dad. Wie war sie so?« »Reitest du immer noch darauf herum?« »Ja.«
»So, das müsste reichen.«
Dad hörte mit dem Hämmern auf, hängte die Stange ein und zog mit einer Kordel die beigefarbenen Vorhänge vor dem Spiegel zu.
»Warum wollen die Leute sich ins Gesicht schauen, während sie sich die Zähne putzen? Finden sie sonst ihre Zähne nicht?« »Dad!«
»Was? Mein Gott! Was willst du wissen? Zahlen, Daten, Fakten?«
»War sie Australierin?«
»Nein, Europäerin.«
»Von wo genau?«
»Wo genau weiß ich nicht.«
»Wieso denn nicht?«
»Warum interessiert dich plötzlich deine Mutter so sehr?« »Ich weiß nicht, Dad. Wahrscheinlich bin ich bloß sentimental.« »Tja, ich bins nicht«, sagte er und zeigte mir eine vertraute Ansicht: seinen Rücken.
Im Lauf der folgenden Monate drückte, quetschte und presste ich Tröpfchen für Tröpfchen folgende spärliche Informationen aus ihm heraus: Meine Mutter war, aus bestimmten Blickwinkeln betrachtet, schön, sie war viel herumgekommen, und sie ließ sich nur höchst ungern fotografieren. Sie sprach mehrere Sprachen fließend, war irgendwas zwischen sechsundzwanzig und fünfunddreißig gewesen, als sie starb, und obwohl sie Astrid gerufen wurde, war das höchstwahrscheinlich nicht ihr richtiger Name.
»Ach ja, und sie konnte Eddie auf den Tod nicht ausstehen«, sagte er eines Tages.
»Sie kannte Eddie?«
»Ich hab Eddie etwa zur gleichen Zeit kennengelernt.« »In Paris?«
»Etwas außerhalb von Paris.«
»Was hast du etwas außerhalb von Paris gemacht?«
»Ach, du weißt schon, das Übliche. Herumwandern.«
Eddie, Dads bester Freund, war ein dünner, schmieriger Thai mit einem Oberlippenbärtchen, der immer in voller Blüte seiner Jahre zu stehen schien und keinen Tag älter wirkte. Wenn er neben meinem blassen Vater stand, sahen sie nicht unbedingt wie Freunde aus, eher wie Arzt und Patient. Nun war klar, dass ich zu Eddie gehen musste, um ihn über meine Mutter auszufragen. Das einzige Problem: Er war so schwer anzutreffen. Er unternahm häufig mysteriöse Reisen nach Übersee, und ich hatte keine Ahnung, ob aus
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