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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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am besten erscheint, sodass wir in der entschwindenden Vergangenheit nicht auf uns zurückblicken und denken müssen: Was für ein Arschloch!
    Aber Dad war nicht der Typ, der seine Erinnerungen beschönigte. Er beließ gerne alles in seiner ursprünglichen Form, und das galt für seine Haare ebenso wie für seine Vergangenheit. Deshalb wusste ich, dass jedes Wort, das er gesagt hatte, stimmte. Und genau deshalb wird mir immer noch elend, wenn ich an die schockierende Enthüllung denke, die auf diese folgte, die Granatenstory über die wichtigste Frau, die in meinem Leben nie vorkam: meine Mutter.
     

TEIL ZWEI
    Ich nahm gerade eine Fünfundvierzig-Minuten-Dusche. Ich weiß, das war der Umwelt gegenüber unverzeihlich, aber ich hatte im New Scientist gelesen, dass das expandierende Universum in ein paar Milliarden Jahren seine maximale Ausdehnung erreicht haben und dann beginnen wird, sich wie ein Gummiband wieder zusammenzuziehen; die Zeit läuft dann rückwärts, d. h. das Wasser wird letztlich wieder in den Brausekopf zurückströmen.
    »Jasper! Das hab ich ja total verschwitzt!«, hörte ich Dad rufen.
    »Ich dusche gerade!«
    »Ich weiß. Weißt du auch, welches Datum wir heute haben?«
    »Nein.«
    »Rat mal.«
    »Den 2. Dezember.«
    »Nein. Heute ist der 17. Mai! Wie konnte ich den bloß vergessen! Beeil dich!«
    Der 17. Mai, der Geburtstag meiner Mutter. Seltsamerweise kaufte Dad ihr immer ein Geschenk. Seltsamerweise musste immer ich es auspacken. Ich wusste nie, ob ich mich dafür bedanken sollte. In der Regel war es ein Buch oder Schokolade, und wenn ich es aufgemacht und so etwas wie »Nicht schlecht« gemurmelt hatte, schlug Dad vor, es ihr persönlich zu überreichen. Das bedeutete, dass wir einen Ausflug zum Friedhof machen würden. Da Dad heute Morgen das bedeutsame Datum vergessen hatte, rannte er im Haus herum und suchte irgendwas, das er einpacken konnte. Schließlich fand er eine Flasche Whisky, in der noch zwei kräftige Schlucke drin waren. Ich wartete genervt, während er sie einpackte. Augenblicke später stand er erwartungsvoll vor mir; ich packte sie aus und sagte: »Nicht schlecht.«
    Meine Mutter war auf einem jüdischen Friedhof beigesetzt, möglicherweise als Verbeugung vor meinen Großeltern. Falls Sie es nicht wissen: In der jüdischen Religion ist es Brauch, dass man den teuren Verblichenen einen Stein aufs Grab legt. Ich habe nie einen Grund gefunden, warum man an wunderlichen alten Bräuchen herumkritteln sollte, wenn sie so preiswert sind wie dieser, deswegen ging ich nach draußen und blickte mich um, welcher schnöde Stein meiner toten Mutter als Zeichen meiner Zuneigung gefallen könnte.
    Als wir schließlich auf dem Friedhof waren, konnten wir das Grab nicht entdecken. Die Unmenge grauer Steine verwirrte uns, aber am Schluss fanden wir sie doch da, wo sie immer lag, zwischen Martha Blackman, die elend lange achtundneunzig Jahre ein- und ausgeatmet hatte, und Joshua Wolf, dessen Herz unfairerweise im Alter von zwölf Jahren aufgehört hatte zu schlagen. Wir starrten auf die Steinplatte, auf der ihr Name stand.
    Astrid.
    Kein Nachname, kein Geburts- oder Sterbedatum - einzig ihr Vorname auf dem Grabstein, der Bände des Schweigens sprach.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie das Leben mit einer Mutter gewesen sein könnte. Es gelang mir nicht. Die Mutter, um die ich trauerte, war ein Amalgam aus selbst fabrizierten Erinnerungen, Fotografien von Stummfilmstars und dem herzlichen, liebevollen Bild des mütterlichen Archetyps. Sie wandelte sich permanent, ein Bild, das ständig im Fluss war.
    Neben mir wippte Dad unruhig auf den Zehenspitzen, als warte er auf ein Spielergebnis. Er trat vor und wischte die sternförmigen Blätter des Herbstlaubs vom Grabstein.
    Ich schaute ihn an. Schaute auf seine Füße. »He!«, rief ich.
    Er fuhr erschrocken herum und schimpfte: »Keine lauten
    Geräusche auf dem Friedhof, du Grabschänder. Willst du, dass ich vor Schreck tot umfalle?«
    »Deine Füße!«, fauchte ich und zeigte darauf. Er hob die Füße und sah nach, ob an seinen Schuhsohlen Hundescheiße klebte.
    »Du stehst auf ihr!«
    »Nein, tu ich nicht.«
    Tat er doch. Er stand auf meiner Mutter. Jeder Trottel konnte das sehen.
    »Verdammt noch mal, du stehst auf ihrem Grab! Geh sofort da runter!«
    Dad grinste, machte aber keine Anstalten, die Füße zu heben. Ich packte ihn am Arm und zerrte ihn weg. Das ließ ihn nur auflachen.
    »Reg dich ab, Jasper. Sie ist gar nicht da drin.« »Wie

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