Vatermord und andere Familienvergnuegen
als wäre allein schon Mrs. French zu sein eine großartige Leistung.
Als ich nichts erwiderte, führten sie mich durchs Haus. Sie zeigten mir einen Haufen Kinder, die im Wohnzimmer fernsahen. Aus Gewohnheit begutachtete ich die weiblichen Gesichter im Zimmer, auch die, von denen ich nur Bruchstücke mitbekam. Ich suche meine Umgebung stets nach Liebreiz ab, um davon zu träumen oder mich daran aufzugeilen; das mache ich in Bussen, in Krankenhäusern, bei den Beerdigungen geliebter Freunde; ich tue es, um mir die Last etwas zu erleichtern; ich werde es noch auf dem Sterbebett tun. Wie es oft so ist, war jeder in diesem Haus hässlich, zumindest äußerlich. Die Kinder beguckten mich allesamt, als wäre ich zu verkaufen. Eine Hälfte von ihnen sah so aus, als hätten sie sich in alles ergeben, was das Schicksal ihnen vorsetzte; die andere Hälfte knurrte nur trotzig. Ausnahmsweise hatte ich kein Interesse an ihren Geschichten. Ich bin sicher, sie hatten alle furchtbar tragische, über die ich hundert Jahre lang hätte heulen können, aber ich war voll und ganz damit beschäftigt, mit jeder Minute in dieser Vorhölle für Kinder zehn Jahre zu altern.
Das Pärchen setzte die Führung fort. Sie zeigten mir die Küche. Sie zeigten mir den Garten. Sie zeigten mir mein Zimmer, eine bessere Abstellkammer. Die Leute mochten so nett und lieb sein, wie sie wollten, aber ich machte lieber kurzen Prozess und ging einfach schon mal davon aus, dass es Perverse waren, die nur aufs Dunkelwerden warteten.
Als ich meine Tasche auf das schmale Bett fallen ließ, sagte Mrs. French: »Hier wirst du glücklich sein.«
»Das meinen Sie doch nicht im Ernst«, gab ich zurück. Ich mag es nicht, wenn Leute mir sagen, wann und wo ich glücklich sein würde oder nicht. Das habe ja noch nicht mal ich selbst zu entscheiden.
»Und was jetzt? Darf ich meinen einen Telefonanruf machen?«, fragte ich.
»Das hier ist kein Gefängnis, Kasper.« »Wird sich zeigen.«
Ich rief Eddie an, um zu fragen, ob ich bei ihm bleiben könne. Er gestand, dass sein Visum längst abgelaufen war, er sich also illegal im Land aufhielt und deshalb nicht die gesetzliche Vormundschaft für mich beantragen könne. Ich rief bei Anouk zu Hause an, um von ihrem Mitbewohner zu erfahren, was ich bereits wusste - dass sie sich in einem buddhistischen Meditationszentrum auf Bali sonnte und erst nach Hause kommen würde, wenn ihr das Geld ausging. Ich saß fest. Ich hängte das Telefon ein, ging zurück zu meinem kleinen Fleckchen Finsternis und weinte. Ich hatte meine Zukunft nie pessimistisch gesehen - bis zu diesem Moment. Ich glaube, das ist der eigentliche Verlust der Unschuld: Wenn man zum ersten Mal die Grenzen erkennt, die das eigene Potenzial einschränken.
Die Tür hatte kein Schloss, aber es gelang mir, den Stuhl unter die Klinke zu klemmen. Ich saß die ganze Nacht lang wach und wartete auf das ominöse Rütteln. Gegen 3 Uhr morgens schlief ich ein, ich kann also nur annehmen, dass sie kamen, um mich sexuell zu missbrauchen, als ich im Tiefschlaf lag und von Ozeanen träumte und von den Horizonten, die ich niemals erreichen würde.
4
Am nächsten Tag ging ich in Begleitung von Mrs. French Dad besuchen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich aufgeregt war, als wir ins Auto hüpften. Ich war noch nie in einer Nervenklinik gewesen - ob es war wie in den Filmen, eine Symphonie schriller, animalischer Schreie? Ich ging sogar so weit zu hoffen, die Patienten würden nicht zu betäubt sein, um mit ihren Holzlöffeln auf Blechteller zu schlagen.
Auf der Fahrt im Auto sagte ich nichts. Mrs. French schaute immer wieder ungeduldig zu mir herüber, gereizt, weil ich ihr nicht mein Herz ausschüttete. Das Schweigen blieb uns den ganzen Weg bis zur Klinik treu. Sie parkte vor dem Zeitschriftenladen und sagte: »Kauf doch deinem Vater was zum Lesen«, dann gab sie mir zehn Dollars. Ich ging hinein und dachte: Was könnte ein Mann, der endgültig ausgetickt ist, lesen wollen? Pornografie? Neues aus der Unterhaltungsbranche? Ich nahm ein Pferdemagazin in die Hand und legte es wieder weg. Das war nicht das Passende. Am Ende entschied ich mich für ein Buch mit Rätseln, Labyrinthen, Anagrammen und Denksportaufgaben, damit sein Gehirn etwas zu tun hatte.
In der Klinik hörten wir dann die Art von irren Schreien, die man immer mit Fontänen von Blut assoziiert. Als wir aus dem Aufzug traten, sah ich Patienten ziellos auf den Fluren herumlaufen, mit zuckenden Beinen,
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