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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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reichte, bei denen er Ideen anprobierte wie Hemden in einer Umkleidekabine, ließ er mich nun endlich die Kernidee hören, auf die sein Leben aufgebaut war.
    Was wir beide damals noch nicht wissen konnten, war, dass wir kurz vor weiteren Verhängnissen standen, die sich alle auf einzelne Vorkommnisse zurückführen ließen. Man sagt, wie es am Ende ausgeht, lasse sich schon an den Anfängen ablesen. Nun ja, der Anfang von diesem Ende war, dass ich die Schule verließ.
     
    Und warum nun war ich abgegangen? Weil ich immer auf dem Platz neben dem Jungen mit dem rätselhaften Ausschlag sitzen musste? Oder weil der Lehrer jedes Mal, wenn ich zu spät zum Unterricht kam, ein Gesicht machte, als entleere er seinen Darm? Oder lag es einfach daran, dass mein Verhalten sämtliche Autoritätspersonen in Rage versetzte? Bei dem einen Lehrer pochten die Adern im Hals: urkomisch! Ein anderer lief vor Wut blaurot an: ein Knüller! Empörung - nichts fand ich damals lustiger, und nichts hat mir mehr Spaß gemacht.
    Nein, wenn ich ehrlich sein soll, dieses ganze Generve war zermürbend und ungut, aber kein Grund, sich davonzumachen, denn es war nur das stinknormale Standard-Unglücklichsein, mit dem man noch gut bedient ist. Den eigentlichen Anlass, die Schule abzubrechen, bildeten diese verteufelten Selbstmorde.
    Unsere Schule lag so nah am Meer, wie es nur ging - beinahe hätte man sie ins Wasser gebaut. Wir mussten die Fenster des Klassenzimmers geschlossen halten, damit die tosende See uns nicht ablenkte, aber an Sommertagen ließ uns die Hitze keine andere Wahl, als sie aufzureißen, und die Stimme des Lehrers kam gegen das Donnern der Brandung kaum an. Die Schulgebäude, miteinander verbundene rote Backsteinklötze, lagen hoch über dem Wasser, an der Kante der »Klippen der Mutlosigkeit« (die Bezeichnung »Klippen der Verzweiflung« war bereits an eine trostlose Klippenwand einige Buchten weiter vergeben). Vom Ende des Schulovals führten tückische Pfade hinunter ans Ufer. Wenn man sich die Pfade nicht antun wollte, wenn man ungeduldig war oder sich den steilen Abstieg nicht zumuten wollte oder sich selbst und sein Leben hasste und keine Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft sah, konnte man immer noch springen. Viele taten es. Alle neun oder zehn Monate gab es einen Selbstmord an unserer Schule. Natürlich ist Selbstmord bei Jugendlichen nicht ungewöhnlich; junge Männer und Frauen haben sich immer schon an diversen seelischen Verkühlungen zu Tode geniest. Aber es musste wohl irgendein mythischer Sirenengesang durch die halb geöffneten Fenster der Klassenzimmer hereinwehen, weil sich bei uns wirklich überproportional viele Jugendliche durch das Tor zum himmlischen Frieden davonmachten. Wie schon gesagt, es ist nicht ungewöhnlich, dass Teenager Schluss machen, aber die Beerdigungen, die schlauchen einen. Mein Gott, ich muss es wissen. Noch heute träume ich von einem ganz bestimmten offenen Sarg, einen, den es womöglich nicht gegeben hätte, hätte ich nicht für den Englischunterricht einen Essay über Hamlet schreiben müssen.
     
    Hamlets Zaudern von Jasper Dean
     
    Die Geschichte von Hamlet ist eine unmissverständliche Warnung vor den Gefahren der Unentschlossenheit. Hamlet ist ein dänischer Prinz, der sich nicht entscheiden kann, ob er den Tod seines Vaters rächen, ob er sich umbringen soll oder nicht, et cetera, et cetera. Kaum zu glauben, wie er sich anstellt. Wie nicht anders zu erwarten, treibt dieses ermüdende Hin und Her Hamlet in den Wahnsinn, und am Ende des Stücks sind alle tot, Pech für Shakespeare, falls er später doch noch eine Fortsetzung schreiben wollte. Die brutale Lehre aus Hamlets Unentschlossenheit gilt für die gesamte Menschheit, besonders angesprochen fühlen sollten sich allerdings diejenigen, deren Onkel ihren Vater getötet und ihre Mutter geheiratet haben.
    Hamlet ist nach seinem Vater benannt, der auf unschöne Weise zu Tode kam, sein Bruder träufelte ihm nämlich Gift ins Ohr. In sein Ohr! Alles andere als nett. Das, was im Staate Dänemark faul war, kann man eindeutig mit dem Begriff Geschwisterrivalität belegen.
    Später, als der Geist seines Dads Hamlet ruft, ihm zu folgen, rät Horatio ihm davon ab, für den Fall, dass der Geist versuchen sollte, Hamlet in den Wahnsinn zu treiben, was er auch tut, und Horatio merkt ebenfalls an, dass jeder, der aus großer Höhe nach unten blickt, daran denkt, in den Tod zu springen. Ich denke dann: Gut, es geht also nicht nur mir

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