Vatermord und andere Familienvergnuegen
so.
Letzten Endes handelt Hamlet von Unentschlossenheit. Die Wahrheit ist, Unentschlossenheit betrifft uns alle, auch wenn wir zu denen gehören, die keine Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu treffen - zu den ungeduldigen Arschlöchern also. Wir leiden ebenfalls. Darauf zu warten, dass jemand eine Entscheidung trifft, zum Beispiel im Restaurant, wenn der Kellner unmittelbar danebensteht, gehört zu den schlimmsten Momenten des Lebens, aber wir müssen uns in Geduld üben. Deinem Date die Speisekarte aus der Hand zu reißen und »Sie nimmt das Hühnchen« zu brüllen, ist keine Art, dieses Gebrechen zu bekämpfen, und zu Sex kommst du damit schon gar nicht.
Das war es. Es war keine große Überraschung für mich, dass mein Englischlehrer, Mr. White, mich durchfallen ließ. Was hätte ich sonst von ihm erwarten sollen oder von einem anderen der lahmarschigen Pädagogen, die diese Schule unsicher machten? Ich sehe sie sogar jetzt noch vor mir. Ein Lehrer sieht aus, als seien ihm seine lebenswichtigen Organe nicht nur entfernt worden, sondern als würden sie auch gefangen gehalten, und er könne das Lösegeld dafür nicht aufbringen. Ein anderer sieht aus, als sei er zwei Minuten, nachdem die Letzten gegangen sind, auf der Party erschienen und höre ein Stück weiter auf der Straße noch wie zum Hohn ihr Lachen. Einer sitzt trotzig da, wie eine einsame Ameise, die sich weigert, ihren Brotkrümel zu tragen. Einige sind so aufgeräumt und heiter wie Despoten, andere so albern wie Idioten.
Dann war da Mr. White: Er war der Lehrer mit dem kleinen Büschel von grauem Haar, das auf seinem Kopf lag wie Zigarettenasche, und oft wirkte er, als sähe er gerade seine Zukunft vor sich in einem nach Geschlechtern getrennten Altersheim. Aber was noch schlimmer war, er hatte einen Sohn, der in unsere Klasse ging. Gut, Glück im Leben kann man nicht vorplanen, aber gegen Unglück kann man doch gewisse Vorkehrungen treffen, oder? Vor jeder Unterrichtsstunde musste Mr. White die Anwesenheitsliste durchgehen. Er musste seinen eigenen Sohn aufrufen. Kann man sich etwas Lächerlicheres vorstellen? Ein Vater weiß, ob sein Sohn anwesend ist oder nicht.
»White«, sagte er.
»Hier«, antwortete Brett dann. Was für eine Farce. Armer Brett! Armer Mr. White!
Wie konnten die beiden es ertragen, ihre Vertrautheit derart zu unterdrücken, dass sie Tag für Tag so tun konnten, als würden sie ihr eigen Fleisch und Blut nicht erkennen? Und wenn Mr. White die Schüler wegen ihrer Dummheit anschnauzte, wie muss das für Brett gewesen sein? War es für sie ein Spiel? War es echt? Während Mr. Whites Tiraden war Bretts Gesicht emotionslos, starr - ich würde sagen, er wusste genauso gut wie wir, dass sein Vater ein Schmalspurtyrann war, der uns Schüler behandelte, als hätten wir ihm seine besten Jahre geraubt, und er rächte sich an uns, indem er uns unser Scheitern voraussagte und uns dann durchfallen ließ, um seine prophetische Gabe unter Beweis zu stellen. Ja, Mr. White, Sie waren ganz ohne Frage mein Lieblingslehrer. Ihre Abscheulichkeit war für mich noch die nachvollziehbarste. Sie waren der einzige von unseren Lehrern, der sichtlich von seinem Elend zur Raserei getrieben wurde, und das vor den Augen Ihres eigenen Kindes.
Als er mir meinen Hamlet-Essay zurückgab, war sein Gesicht blass vor Zorn. Er gab mir tatsächlich ein schönes, rundes »Thema verfehlt«. Mit meinem Aufsatz hatte ich mich über etwas lustig gemacht, das ihm heilig war: William Shakespeare. Im Innersten wusste ich, dass Hamlet ein außergewöhnliches Werk war, aber wenn man mir irgendeine Aufgabe gibt, zerre ich stur an der Leine. Müll zu schreiben war meine kleine Form der Rebellion.
Am selben Abend beging ich den Fehler, den Aufsatz meinem Vater zu zeigen. Er las ihn - blinzelte, knurrte, nickte -, als stemme er schwere Holzscheite. Ich stand neben ihm und wartete wohl auf seine Zustimmung. Die erhielt ich nicht. Er gab ihn mir zurück und sagte: »Ich habe heute etwas Interessantes in Voltaires Philosophischem Wörterbuch gelesen. Wusstest du, dass die Ägypter ihrem Pharao das Gehirn herausgenommen haben, ehe sie ihn einbalsamierten? Und dennoch haben sie erwartet, dass er Jahrhunderte später wieder auferstehen werde. Was glaubst du, was sie sich vorgestellt haben, was er dann ohne Gehirn anfangen sollte?«
Es war lange her, seit mein Vater versucht hatte, mich selbst zu unterrichten. Zum Ausgleich dafür, dass er mich einer Institution überlassen
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