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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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mir da begegnet.«
    »Ich sage dir, was dir da begegnet. Durchgeknallte Autofahrer!« »Darauflasse ich es ankommen.«
    »Sieh mal, Jasper. Das Einzige, was ich kann, führt auf direktem Weg zu Tiefkühlgerichten und schmutziger Wäsche. Ich habe die Schule abgebrochen. Ich habe mich in der ganzen Welt herumgetrieben. Mich bewusst von der Gesellschaft abgesondert. Aber dich habe ich aus gutem Grund wieder in der Schule angemeldet: damit du einen Fuß in beiden Welten stehen hast, unserer und ihrer. Es gibt keinen Grund, jetzt abzuhauen wie vom Schauplatz eines Verbrechens. Bleib. Mach den Abschluss. Danach kannst du tun, was du willst. Du willst studieren? Du willst dir einen Job suchen und solide werden? Du willst die Länder bereisen, in denen die faszinierendsten Diktatoren herrschen? Du willst während des Monsuns in einem exotischen Fluss ertrinken? Ganz egal. Halt dir nur die Möglichkeit offen. Halt noch eine Weile im System aus, okay?«
    »Du hast es nicht getan. Wie oft habe ich dich sagen hören: >Scheiß auf das System! < Was anderes mach ich doch auch nicht. Ich scheiß drauf.«
    Wir Kinder von Rebellen sind zu bedauern. Genau wie alle anderen Kinder haben auch wir das Recht, gegen den von unserem Vater eingeschlagenen Weg zu rebellieren, auch in unseren Herzen wüten Anarchie und Revolution. Doch wie rebelliert man gegen Rebellion? Heißt das Rückbesinnung auf Konformität? Das bringt nichts, denn dann würde sich eines Tages mein eigener Sohn, wenn er gegen mich rebelliert, in meinen Vater verwandeln.
    Dad beugte sich vor, als wolle er mir einen Mord gestehen, auf den er besonders stolz war.
    »Tja, wenn du deine Seele der Straße anvertrauen willst, möchte ich dir eine Warnung mit auf den Weg geben«, sagte er, und seine Augenbrauen hoben sich drohend. »Nenn es eine Verkehrswarnung. Ich weiß nur nicht genau, wie ich mich ausdrücken soll.«
    Dad setzte sein Denkergesicht auf. Seine Atmung wurde flach. Er fuhr herum und zischte ein »Pst!« zu den Leuten am Tisch hinter uns. Und dann kam seine Warnung.
    »Die Leute beklagen sich ständig, weil sie keine Schuhe haben, dann sehen sie einen Mann ohne Füße und beklagen sich, weil sie keinen elektrischen Rollstuhl haben. Warum? Was veranlasst sie daran, sich automatisch von einem stumpfsinnigen System in ein anderes zu begeben, und warum stellt sich der freie Wille immer in den Dienst kleinlicher Details und nicht in den des großen Ganzen - es heißt nicht: >Soll ich arbeiten?<, sondern: >Wo soll ich arbeiten?<, nicht: >Soll ich eine Familie gründen?<, sondern: >Wann soll ich eine Familie gründen?< Wie kommt es, dass wir nicht plötzlich unsere Länder tauschen und alle von Frankreich nach Äthiopien umsiedeln und jeder in Äthiopien nach Großbritannien zieht und jeder in Großbritannien in die Karibik und so weiter, bis wir endlich die Erde untereinander aufteilen, so wie wir das sollten, und unsere schändliche, egoistische, blutrünstige und fanatische Loyalität dem Boden gegenüber abschütteln. Warum wird der freie Wille an eine Kreatur verschwendet, die unendlich viele Wahlmöglichkeiten hat, sich aber so verhält, als gäbe es höchstens eine oder zwei?
    Weißt du, Leute sind wie Knie, auf die man mit einem Gummihämmerchen schlägt. Nietzsche war ein Hammer. Schopenhauer war ein Hammer. Darwin war ein Hammer. Ich will kein Hammer sein, weil ich weiß, wie die Kniereflexe funktionieren. Es ist langweilig, wenn mans weiß. Ich weiß es, weil ich weiß, dass die Leute glauben. Die Leute sind stolz auf ihre Überzeugungen. Ihr Stolz verrät sie. Es ist Besitzerstolz. Ich habe mystische Visionen gehabt und gefunden, dass sie alle so viel Krach machen. Ich habe Erscheinungen gehabt, ich hörte Stimmen, ich roch Gerüche, aber ich ignorierte sie, und ich werde sie immer ignorieren. Ich ignoriere diese Mysterien, weil ich sie gesehen habe. Ich habe mehr gesehen als die meisten, trotzdem glauben sie, und ich tue es nicht. Und warum glaube ich nicht? Weil ein Prozess vonstattengeht, und ich kann ihn sehen.
    Er wird in Gang gesetzt, wenn die Leute den Tod sehen, und das geschieht ständig. Sie sehen den Tod, aber was sie wahrnehmen, ist Licht. Sie spüren ihren eigenen Tod, und sie nennen es Gott. Das passiert mir auch. Wenn ich dieses ganz tiefe Bauchgefühl habe, dass die Welt mit Sinn erfüllt ist oder dass Gott existiert, weiß ich, dass es eigentlich der Tod ist, aber weil ich nicht am helllichten Tag den Tod sehen will, lässt sich der Geist

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